Wer anders liebt (German Edition)
Turnschuhe waren himmelblau und gold gestreift.
»Wie sieht’s aus?«, fragte er. »Werden Sie ihn finden? Was sollen wir den Kindern sagen? Haben Sie irgendeine Theorie, was hier passiert?«
Dann riss er sich zusammen und sah sie unglücklich an, machte eine hilflose Handbewegung. Er war schlank und katzenhaft, und wenn er redete, bewegte er den ganzen Körper.
»Was die Kinder angeht«, sagte Sejer, »denen sollten Sie sagen, dass die Antwort noch kommen wird.«
Meyer ging ans Fenster und schaute hinaus auf den See.
»Zwei Jungen aus unserer Schule«, sagte er, »das ist nicht zu fassen. Wissen Sie, was die Kinder sagen? Dass er unten im Lindetjern liegt. Dass ein gefährlicher Mann da oben im Wald sein Unwesen treibt. Und ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn vielleicht haben sie ja recht.«
Wieder hatte Sejer das Gefühl, mit leeren Händen vor einem Bettler zu stehen.
»Wie ist es«, fragte Skarre, »kommt Edwin in der Schule gut zurecht?«
Meyer brachte ein Lächeln zustande.
»Im Grunde bin ich beeindruckt davon, dass Edwin überhaupt in die Schule kommt«, sagte er, »er kommt nicht gerade gut zurecht. Er ist nicht sehr intelligent und hat eigentlich in jeder Hinsicht Probleme. Wenn man von Mobbing spricht, dann ist viel die Rede von Kindern, wie brutal sie miteinander umgehen, und das stimmt wohl auch. Aber es fängt ja irgendwo an. Wenn sie zu Hause daran gewohnt sind, dass auf ihnen herumgehackt wird, dann begegnen sie der Welt mit demselben Mangel an Respekt für die Gefühle anderer.«
»Haben Sie Schüler, auf denen zu Hause herumgehackt wird? Wollen Sie das sagen?«, fragte Sejer.
»Ich mache mir meine Gedanken. Lassen Sie es mich so sagen, ich passe genau auf.«
»Reden Sie jetzt von verbalen Schikanen oder geht es auch um andere und schwerwiegendere Dinge?«
»Vielleicht.«
»Was ist mit Edwin? Hat der es gut zu Hause?«
»Ich habe keinen Grund zu einer anderen Annahme«, sagte Meyer, »wenn man es nicht schon für einen Übergriff hält, dass ein Kind sich zu einem solchen Übergewicht fressen kann.«
»Das war eine brutale Behauptung«, sagte Sejer.
»Von mir aus.«
»Wieweit können seine Lernschwierigkeiten seinem Übergewicht zugeschrieben werden?«
»In hohem Maße, möchte ich meinen. Ein großer Teil seiner Gedanken dreht sich ums Essen, er hat Konzentrationsprobleme. Essen ist wichtiger als alles andere. Als Spiel, Schule und Freunde, Essen ist morgens das Erste und abends das Letzte. Er liebt Essen über alles. Aber ich gebe mir Mühe, ihm zu helfen, er ist ein sehr feiner Junge«, fügte er leise hinzu. »Es ist seltsam«, sagte er dann, »denn einerseits macht es mir Angst zu sehen, wie rasch er zunimmt, und andererseits bin ich fasziniert. Wenn er isst, bekomme ich fast keinen Kontakt zu ihm, er ist fern und unzugänglich, fast wie in einem Rausch.«
Meyer ging zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und zeichnete einen kleinen Stern über Edwins Namen.
»Dieses Übergewicht«, sagte Sejer, »ist also ein ernstzunehmendes Handicap?«
»Es ist wohl noch schlimmer«, sagte Meyer. »Es ist lebensgefährlich. Manchmal denke ich, dass sein Herz vielleicht versagt hat, dass er einfach umgefallen ist und man ihn in einem Graben finden wird.«
»Er hat doch sicher einen Arzt«, sagte Skarre. »Haben Sie mit dem geredet?«
»Sicher«, sagte Meyer. »Ich musste doch wissen, wie ich mich verhalten sollte. Edwin hat immer alles in seinem eigenen Tempo machen dürfen, ich habe ihn nie bedrängt. Am Sport hat er natürlich nie teilgenommen, er sitzt auf dem Boden und sieht zu und verzehrt eines seiner vielen mitgebrachten Butterbrote.«
Sejer musterte die Wände, die mit Kinderzeichnungen geschmückt waren.
»Er hat seine Mutter in einem roten Kleid gezeichnet«, erklärte Meyer und zeigte auf das Bild. »Wenn er nicht zurückkommt, wird es schrecklich leer. Die Kinder sind total verstört, sie haben jegliches Geborgenheitsgefühl verloren. Jonas August ist tot und jetzt ist Edwins Platz leer. Die Kinder dürfen kaum aus dem Haus, so ernst ist die Lage. Wir sind gebeten worden, nach dem weißen Auto Ausschau zu halten, aber wenn es klingelt, ist draußen soviel Verkehr, dass es manchmal an ein Chaos grenzt, weil alle ihre Kinder abholen. Ehe wir morgens mit dem Unterricht anfangen, sprechen wir über alles, was passiert ist, aber wir müssen doch auch arbeiten, das Leben soll ja weitergehen. Aber das ist schwer, denn die Kinder sind unkonzentriert. Jetzt haben einige Eltern
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