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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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verschwunden war, galt er als ungeheuer gefährlich.
    25
     
    »Ich habe mich über die unterschiedlichen Paraphilien informiert«, sagte Skarre, »die Fachliteratur kennt über hundert verschiedene Vorlieben. Ich will nicht leugnen, dass mich das fasziniert. Übrigens«, fügte er hinzu, »paidos bedeutet Knabe und philia bedeutet Liebe.«
    »Ich verstehe«, sagte Sejer.
    »Und hier haben wir eine andere Variante«, sagte Skarre. »Gerontophilie.«
    »Was ist das denn?«
    »Wenn man auf alte Leute steht.«
    Sejer runzelte die Stirn.
    »Und Acrotomiphilie. Wenn man Menschen begehrt, denen Arme oder Beine fehlen.«
    »Gibt es das?«
    »Das gibt es. Und dann haben wir natürlich Nekrophilie …«
    »Ich weiß, ich weiß. Erzähl mir lieber etwas anderes. Ist Pädophilie heilbar?«
    »Bis zu einem gewissen Grad«, sagte Skarre. »Aber die Ergebnisse lassen oft zu wünschen übrig. Eigentlich müsste man eine Therapie machen, ehe man vierzehn wird. Und das ist nicht leicht zu bewerkstelligen. Dann haben sie ja meistens noch nichts angestellt.«
    »Aber wann stellen sie fest, dass sie kleine Kinder bevorzugen?«
    »Schon früh. Das tritt ein, wenn es in der Beziehung zu den Eltern einen Konflikt gibt, einen gefühlsmäßigen Konflikt, für den das Kind eine Lösung sucht. Die Lösung, also die Paraphilie, finden sie in der Regel im Alter von acht oder neun, manchmal auch schon mit sechs. Und mit den Jahren wird sie immer stärker. Hierzu gibt es nur wenig Forschung, das ist das Problem.«
    »Ach?«
    »In einigen Staaten der USA«, sagte Skarre jetzt, »ist es verboten, mit Jugendlichen unter sechzehn über Sex zu sprechen.«
    »Warum denn das?«, fragte Sejer.
    »Das gilt dort als Übergriff. Deshalb werden sie vom System auch nicht aufgefangen. Und die Paraphilie, wenn sie also eine haben, kann sich in aller Ruhe entwickeln. Und obwohl wir ihn verachten und ablehnen, ist ein Übergriff ein Versuch, das Problem zu lösen.«
    »Das verstehe ich immerhin«, sagte Sejer. »Aber in diesem Fall lasse ich keine Zugeständnisse gelten.«
    »Noch etwas«, sagte Skarre, »worüber man nachdenken sollte. Wann handelt es sich um einen Übergriff, wer definiert das? Die Religion? Die Moral? Die Fachleute, die Regierungen oder wir alle zusammen? In anderen Kulturen«, fügte er hinzu, »gehen Dinge vor sich, die in Norwegen zu kollektiver Verachtung und strengen Strafen führen würden.«
    »Zum Beispiel?«
    »Polynesische Mütter befriedigen ihre kleinen Kinder, damit die abends einschlafen.«
    »Gütiger Himmel.«
    »Die Knaben auf Neu Guinea müssen die erwachsenen Männer bedienen, um selbst einmal als echte Männer zu gelten. Ich will hier nicht ins Detail gehen, du genierst dich ja so leicht.«
    »Danke.«
    »Und dann haben wir die portugiesischen Großmütter.«
    »Willst du jetzt auch noch die portugiesischen Großmütter in Verruf bringen?«, fragte Sejer empört. »Ich habe in Portugal Urlaub gemacht, ich habe sie aus nächster Nähe gesehen, sie sind der Anstand in Person.«
    »Die befummeln die kleinen Jungen in der Kirche«, sagte Skarre, »damit sie bei der Abendandacht still sitzen.«
    »Sowas Übles hab ich ja noch nie gehört.«
    »Aber hier im kalten Norden ist vieles verboten.«
    »Dafür können wir dankbar sein«, sagte Sejer. »Dafür sollen wir sorgen, und wir haben keinen Spielraum.«
    Er musterte Skarre mit strengem Blick.
    »Wenn man ein Kind auf den Schoß nimmt, darf man keine Hintergedanken haben.«
    26
     
    Die Solberg-Schule in Huseby war ein altes, gelbes Steinhaus, das von Birken umgeben war. Es lag auf einer Anhöhe über dem Bonnafjord, und die Kinder in den nach Norden schauenden Klassenzimmern träumten sich oft im blauen Wasserspiegel davon. Alex Meyer begleitete Sejer und Skarre zu Edwins Klassenzimmer. Der Raum weckte in den beiden gemischte Gefühle, es war etwas am Geruch, ein undefinierbarer Hauch von Essen, grüner Seife und Kinderkörpern. An der Tafel stand in malerischen Buchstaben der Name Edwin und um den Namen hatten die Kinder Blumen und rote Herzen gemalt. Aber etwas anderes erregte die Aufmerksamkeit der Besucher, etwas, das mitten in dem ordentlichen Raum stand. Ein Stuhl. Dieser Stuhl war größer und breiter als die anderen, offenbar passte Edwin nicht auf eine normale Schulbank. Alex Meyer war ein schlaksiger Mann von Mitte vierzig mit einer wilden, braunen Mähne, die wachsen durfte, wie sie wollte. Um das Handgelenk hatte er sich einige braune Lederriemen gebunden, seine

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