Wer anders liebt (German Edition)
Kleidung ausgesucht, das dunkelblaue Kostüm. Jetzt konnte sie alles dem Pastor überlassen, und nach zwei Stunden würde sie auf sich selbst angewiesen sein, ohne praktische Dinge, auf die sie sich konzentrieren konnte. Vor ihr lag der Rest des Lebens mit langen, schwarzen Tagen.
Der Pastor schaute über die Gemeinde.
»Heute bin ich wütend auf Gott.«
Dieses Eingeständnis ließ sie aufwachen. Doch, das war sicher richtig, verspürten sie nicht alle Wut und Ohnmacht? Und wer war der Gott, der behaupten konnte, er verbinde dieses gemeine Verbrechen mit einem höheren Plan?
»Heute bin ich wütend auf Gott«, sagte der Pastor noch einmal, »aber ich bin auch froh.«
Na gut, dachte Sejer, da kommt er jetzt schon mit Freude an, das ist wohl übertrieben früh. Wieder spähte er zu Skarre hinüber, der saß da, wie es sich für einen Pastorensohn aus Søgne gehörte, mit geradem Rücken und auf dem Schoß gefalteten Händen.
»Acht Jahre lang durften wir uns über Jonas August freuen«, sagte der Pastor jetzt. »Es war eine kurze Freude, aber was sollen wir Stunden und Tage zählen? Manche leben kurze Leben. Jetzt haben wir uns versammelt, um ihm Ehre zu erweisen, und das tut weh. Heute sehen wir nur Bosheit und Entsetzen, das Unerklärliche, das Unverzeihliche, aber mit Gottes Hilfe werden wir alles einmal in einem anderen Licht sehen. Gott wird uns zur Versöhnung helfen, denn der, der uns Jonas genommen hat, ist ebenfalls eine verlorene Seele, die in die Irre gegangen ist.«
Ach was? Ist das so?, dachte Sejer, suche ich also eine verlorene Seele, die in die Irre gegangen ist? Nein, das stimmt nicht. Ich suche nach einem Mann, der sein eigenes Begehren über alles setzt, einem Mann, der sich nicht beherrschen kann, einem Mann, der für seine Befriedigung über Leichen geht. Wenn ich mit ihm im Vernehmungszimmer sitzen werde, wird es keinen Platz für Versöhnung geben. Ich werde höflich und korrekt sein, aber ich werde ihm nichts schenken, keine Gnade, keine Sympathie.
»Der Tod ist nicht endgültig«, sagte der Pastor, »denn wir alle sind immer auf Reisen, wir steuern diesen Strom der Ewigkeit an, der das Blut in allen ist, die uns gekannt und geliebt haben, und in ihnen werden wir weiterströmen. Wir tragen Jonas August. Das ist eine schwere Last, aber sie wird leichter. Die Tränen, die wir in den kommenden Monaten vergießen, werden zu einem Lächeln. Weißt du noch, werden wir sagen, Jonas August, der in Solberg in unserer Klasse war? Der immer ein Lächeln und ein freundliches Wort hatte?«
Er legte eine Pause ein, senkte den Kopf, um ihn dann mit Autorität und Ernst wieder zu heben.
»Gevatter Tod hat den Wagen vorgefahren. Jonas August ist eingestiegen.«
Er machte abermals eine Pause. Gewisse Anzeichen von Wohlstand und Bequemlichkeit zeichneten sich unter dem Talar ab, aber sein Gesicht mit seinen femininen Zügen sprach von Demut. Dann trat Jonas’ Lehrerin vor, um ein Gedicht vorzulesen. Ihre Hände wollten das Blatt nicht ruhig halten, es raschelte so, dass alle es hörten, und ihre Stimme drohte zu versagen, aber ihre Worte erreichten die anderen dennoch und gingen ihnen durch Mark und Bein. Gegen Ende der Trauerfeier bat der Pastor die Schulkinder nach vorn, jedes hielt eine langstielige rote Rose in der Hand. Dann stellten sie sich im Mittelgang auf und traten nacheinander vor, legten die Blume auf den Sarg, dreiundzwanzig Rosen insgesamt. Es war unmöglich, von diesem Bild nicht ergriffen zu sein, die Kinder, die Rosen, der Sarg. Dann kehrten sie an ihre Plätze zurück, rutschten glücklich auf die Holzbänke, denn der Auftrag, über den sie in der Klasse soviel gesprochen hatten, war ausgeführt, und, so wie sie das sahen, mit Stil und Würde.
Dann passierte etwas. Niemand war darauf vorbereitet. Man konnte sehen, wie der Pastor zusammenzuckte, einige der Trauergäste schlugen entsetzt die Hand vor den Mund und Sejer lief es eiskalt den Rücken hinunter. Elfrid Løwe fing an zu schreien. Die Zeremonie hatte ihr geholfen, die Fassung zu wahren, sie hatte sich an der Stimme des Pastors festgehalten, aber jetzt schrie sie wild und schrill, in einem Protest, der alle zusammenfahren ließ. Die Schreie kamen aus ihrem tiefsten Innern und drängten mit einer Kraft heraus, die die anderen ihr kaum zugetraut hätten, schmächtig, wie sie war. Der Pastor hatte eine ganze Stunde lang ein brüchiges Bauwerk aus Trost und Ergebenheit errichtet. Jetzt schrie sie und riss das Bauwerk ein, und die
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