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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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anderen konnten nicht mehr in Würde trauern.
    »Komm«, flüsterte Sejer Skarre zu. »Wir gehen raus.«
    Die Männer schlichen sich durch die Kirchentür, atmeten die frische Septemberluft ein. Sie hörten wieder die Orgel, gedämpft hinter der geschlossenen Tür. Skarre zog eine Zigarettenpackung aus seinem dunklen Anzug.
    »Meine Finger zittern«, gab er zu.
    Er gab sich Feuer und zog an seiner Zigarette.
    »Und wenn du ein Wort über Gott sagst, gehe ich.«
    Sejer schüttelte den Kopf.
    »Ich wollte etwas anderes erwähnen.«
    »Ach?«
    »Hast du gesehen, wer in der hintersten Bank saß? Allein, in einem grauen Anzug, dicht bei der Wand?«
    »Nein. Wieso?«
    »Dieser Mann«, sagte Konrad Sejer, »war Reinhardt Ris.«
    28
     
    Der Anblick von Reinhardt in einem grauen Anzug war so überraschend, dass Kristine stutzte. Es war fünf nach vier und ihr Dienst im Zentralkrankenhaus war zu Ende. Der Rover glitt vor den Eingang und sie sah Reinhardt an, wie er da herausgeputzt saß, sie musterte den weißen Kragen und den weinroten Schlips.
    »Anzug?«, fragte sie. »Wo bist du denn gewesen?«
    Sie stieg ein und knallte mit der Tür, auf ihren Knien lag die himbeerrote Jacke. Reinhardt manövrierte den Rover vorbei an einem geparkten Krankenwagen, ein wichtiges Lächeln umspielte seinen Mund, ein Signal, dass sie ihre Neugier brav zügeln musste.
    »Warst du nicht im Büro?«, fragte sie.
    Er bremste für ein von rechts kommendes Auto. Er sieht gut aus, dachte Kristine, er hat lange Beine und breite Schultern und dieser Anzug sitzt perfekt.
    »Natürlich war ich im Büro«, sagte er, »aber ich habe mir zwei Stunden freigenommen. Ich war bei Jonas Augusts Beerdigung.«
    Er gab Gas und bog in die Straße ein. Kristine starrte ihn an, sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Widersprüchliche Gedanken jagten durch ihren Kopf, dass er unverschämt sei, oder vielleicht sogar ein bisschen verrückt. Ein Voyeur, oder schlimmer, ein Dieb. Einer, der anderen Lebenserfahrung stahl.
    »Ich war neugierig«, sagte er ruhig. »Ich dachte, eine solche Beerdigung könne keine Ähnlichkeit mit anderen Beerdigungen haben, und das hatte sie auch nicht.«
    »Aber du hast ihn doch gar nicht gekannt«, sagte sie. Wieder schämte sie sich, als sei er ein ungezogenes Kind, für das sie sich verantworten musste.
    »Wir haben ihn gefunden«, sagte er.
    »Ja, ist das eine Verpflichtung?«
    »Vielleicht nicht.« Er zögerte. »Aber ich finde doch, dass es mir gewisse Rechte gibt. Überleg doch mal, Mädel. Wir haben ihn gefunden, wir haben angerufen, wir haben gewartet, wir haben Fragen beantwortet. Wir haben die halbe Nacht wach gelegen.«
    Kristine dachte über die letzten Tage nach, über alles, was geschehen war. Neben ihr saß ein Mann, der ein Lebensprojekt gefunden hatte, ein Mann, der sich von der Tragödie anderer unterhalten ließ, der glaubte, der Mord an einem Kind habe ihm besondere Rechte gegeben, ein Mann, mit dem sie verheiratet war, und der ihr ihren innigsten Wunsch verweigerte. Sie hatte sich bis zum Tod an ihn gebunden. Sie hatte vorgehabt, dieses Versprechen zu halten, aber jetzt hatte sie das Bedürfnis, Forderungen zu stellen.
    »Hast du mit ihnen gesprochen?«, fragte sie.
    »Nein, die waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um es mal so zu sagen.«
    »Weißt du was?«, fragte sie nun und konnte sich fast nicht mehr beherrschen. »Ich könnte dich besser verstehen, wenn du zu Jonas’ Mutter gegangen wärst, ich meine, nach der Trauerfeier, und gesagt hättest, wer du bist. Wenn du die Wahrheit gesagt hättest, eben, dass du ihn gefunden hast. Und dass du deshalb gekommen seist. Das wäre eine erwachsene, verständliche Handlung gewesen, eine Erklärung, die sie meiner Ansicht nach verlangen kann. Aber du schleichst dich einfach rein und schmarotzt an ihrem Drama und ihrer Trauer.«
    »Ich konnte nicht zu ihr gehen«, sagte er, »weißt du, ich hatte mir das auch überlegt, aber es war nicht möglich.«
    »Warum nicht?«
    Er umklammerte das Lenkrad.
    »Weil sie geschrien hat. Ich habe niemals jemanden auf diese Weise schreien hören. Ich dachte, die Fenster würden zerspringen.«
    Kristine sah ihn erschrocken an. Jetzt war er tiefernst, als habe die schreiende Frau ihn wirklich aufgewühlt. Er fuhr schneller, und sie sah ihn aus den Augenwinkeln an, sie erkannte, dass er vermutlich niemals ein guter Vater geworden wäre, er war mit sich und seinen Angelegenheiten vollauf beschäftigt. Diese Erkenntnis war

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