Wer anders liebt (German Edition)
vollgestopft. Hier muss aufgeräumt werden, dachte sie, während sie Briefe und alte Weihnachtskarten durchging. Sie konnte den Pass nicht finden. Vielleicht hatte Reinhardt ihn in seine Archivmappe gelegt, so eine hatte er für wichtige Unterlagen, eine Akkordeonmappe mit vielen Fächern. Sie fand die Mappe und öffnete sie, sah ein Fach nach dem anderen durch auf der Suche nach ihrem Pass. Dabei fand sie den Trauschein, den sie lange betrachtete. Sie hatte ihn geheiratet, das hatte sie für richtig gehalten. Dann suchte sie weiter zwischen Gebrauchsanweisungen und Steuerkarten, sie fand die Garantie für den Rasenmäher und den Kaufvertrag für den Rover. Und sie fand ihren Pass, endlich, in der roten Plastikhülle. Sie umklammerte ihn mit der Hand. Da erregte ein großer, gelber Umschlag ihre Aufmerksamkeit. Sie öffnete ihn und schaute hinein. Er enthielt ein Foto. Sie sank zu Boden und legte das Foto auf ihr Knie, es war das Bild eines Mädchens von fünf, sechs Jahren, mit dunklen, glatten Haaren und einem Pony. Sie hatte eine breite Lücke zwischen den Vorderzähnen. Kristine hatte sie noch nie gesehen, sie kramte in ihrem Gedächtnis, erkannte das kleine Mädchen aber nicht. Das war seltsam. Und noch etwas anderes verwirrte sie. Das Mädchen war von der Brust an aufwärts abgebildet, ihre Schultern waren nackt. Ein aufwühlender Gedanke setzte sich fest. Er hat eine Tochter, dachte sie, mit einer anderen, deshalb will er kein Kind, denn er hat schon eins. Für das er vielleicht Unterhalt zahlt. Sie schnappte nach Luft. Sie presste die Hände auf den Boden, um das Gleichgewicht zu halten. Sie steckte das Bild wieder in den Umschlag, so, wie sie es gefunden hatte, und jetzt liefen ihre Gedanken ihr davon. Wenn er nun so war. Sie brachte es nicht einmal in Gedanken über sich, dieses Wort auszusprechen. Einer, der es auf Kinder abgesehen hatte. Nein, nicht Reinhardt, das war eine alberne Vorstellung, eine fast hysterische Vorstellung. Aber das kleine Mädchen hatte nackte Schultern, was konnte das bedeuten? Sie nahm das Bild wieder aus dem Umschlag und sah es sich noch einmal an. Das Mädchen hatte keine Ähnlichkeit mit Reinhardt, eigentlich sah sie überhaupt nicht norwegisch aus, sie hatte dunkle Augen und Haare. Sie legte das Bild wieder zurück und steckte ihren Pass in ihre Handtasche. Sie setzte sich zum Warten aufs Sofa, sie saß da und starrte aus dem Fenster in das schwindende Licht. Dann ging sie ins Badezimmer und sah sich im Spiegel an. Sie hielt sich am Waschbecken fest und zählte langsam bis 10. Es konnte nicht wahr sein. Sie war müde und wollte schlafen, aber sie konnte jetzt nicht ins Bett gehen, konnte keine Ruhe finden. Sie sah das Kind vor sich, mit den nackten Schultern und dem seltsamen, fast flehenden Blick. Sie machte sich daran, ihre Ehe auseinanderzunehmen, überall fand sie etwas, was sie übersehen hatte, kleine, hässliche Zeichen, und im Bett oft eine Mischung aus Distanz und Brutalität. Dass er hier in diesem Haus mit mir zusammen wohnt, das ist unerträglich. Das kann nicht stimmen. Ich bilde mir das alles nur ein. Sie legte sich aufs Sofa, am liebsten wäre sie im Polster versunken. Sie blieb liegen und schaute den Uhrzeigern zu.
34
»Warum schläfst du auf dem Sofa?«
Reinhardts Stimme schallte durch das Zimmer.
»Wo warst du denn?«, gähnte sie und setzte sich mühsam auf, sie zog die Decke an die Brust, wie um sich zu schützen, denn das hier war jetzt ein anderer Reinhardt, einer, den sie vielleicht gar nicht kannte.
»Mit dem Auto unterwegs«, sagte er gleichgültig. »Ich habe frische Luft gebraucht.«
»Es ist fast zwei«, rief sie, »du warst viele Stunden weg.«
»Ich brauchte eben Zeit für mich«, sagte er, »reg dich ab, Schatz.«
»Das hättest du ja wohl sagen können«, antwortete sie, »ich hätte es verstanden.«
Er ging hinaus in die Küche und öffnete den Kühlschrank, kam mit einer Bierdose in der Hand zurück.
»Ich hab keine Lust, jeden kleinen Schritt zu melden«, sagte er und hob die Dose an den Mund. Sie faltete die Decke ordentlich zusammen und stand auf.
»Dann gehe ich ins Bett«, sagte sie.
Ihre Stimme versagte fast.
»Du siehst mich nicht an«, sagte er plötzlich. »Bist du sauer?«
Sie brachte keine Antwort heraus. Sie dachte nur an das Bild im Schreibtisch. Was würde Reinhardt sagen, wenn sie ihn darauf anspräche? Nein, das wagte sie nicht, er war so groß und breit, wie er hier vor ihr stand.
»Du brauchst nicht so
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