Wer anders liebt (German Edition)
dramatisch zu sein«, sagte er, »ich bin doch hier, und du hast einige Stunden auf dem Sofa geschlafen. Das ist alles.«
»Gute Nacht«, sagte sie und ging auf die Tür zu.
Er setzte sich und knallte die Bierdose auf den Tisch.
»Du bist wirklich süß«, sagte er leise, »aber du bist auch ganz schön zickig.«
Sie drehte sich um und sah ihn an.
»Dann entschuldige«, sagte sie bitter. »Aber ich wusste nicht, wo du warst oder was du gemacht hast. Jetzt gehe ich schlafen. Auf diesem Sofa liegt man nicht besonders gut, aber ich hatte nicht genug Ruhe im Leib, um ins Schlafzimmer zu gehen. Das mache ich jetzt. Gute Nacht.«
Sie ging aus dem Zimmer und knallte mit der Tür, lief die fünfzehn Stufen zum Schlafzimmer hoch. Es kam nicht oft vor, dass sie ihn reizte, und jetzt hatte sie schreckliche Angst. Sie kroch unter die Decke und horchte auf die Geräusche aus dem Erdgeschoss. Sie wollte nur schlafen, fühlte sich aber hellwach. Ihre Augen suchten in der Dunkelheit, in dem Zimmer, das sie so gut kannte, dem Zimmer, das sie seit vielen Jahren teilten. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde Reinhardt die Treppe hochkommen und sich neben sie legen. Sie wusste nicht, ob sie es ertragen konnte, ihn so dicht bei sich zu haben, jetzt, wo sie wusste, was sie wusste. Wenn er noch dazu Annäherungsversuche machte, würde sie wohl schreien, fürchtete sie, und zugleich dachte sie an das Kind, das sie sich so sehr wünschte.
Ich gebe nicht auf, dachte sie, ehe ich meinen Willen habe. Und das geht nur auf die eine Weise. Sie blieb mit offenen Augen liegen und wartete.
35
Sejer und Skarre fuhren zum Linde-Wald.
Die Straße war schmal, die Kurven halsbrecherisch, und die lockeren Kanten boten wenig Schutz gegen die Schlucht, in der unten ein Bach floss. Auf halber Strecke war eine Ausweichstelle angelegt worden, aber auf der fünf Kilometer langen Fahrt begegnete ihnen niemand. Oben gab es einen kleinen Parkplatz für drei oder vier Wagen, Sejer fuhr daran vorbei und hielt bei der roten Schranke.
»Hier sind sie dem Mann im blauen Anorak begegnet«, sagte er. »Reinhardt und Kristine Ris. Genau hier bei der Schranke. Es steht fest, dass sie ihn deutlich gesehen haben, und am 4. September war klares, sonniges Wetter.«
»Es hilft uns nicht weiter«, sagte Skarre, »wenn Ris unsere Leute zu einem Mann im Rollstuhl schickt.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Sejer. »Irgendwas muss passiert sein. Ein Missverständnis. Wir müssen es überprüfen.«
Die Männer gingen los. Sie bogen vom Waldweg ab und erreichten die Tannen, die Stelle, wo Jonas August gefunden worden war. Das Bild des halb nackten Jungen war in ihrer Erinnerung immer noch deutlich.
»Er wird die Aussage verweigern«, sagte Skarre, »auf Anraten seines Anwalts.«
Sejer lächelte.
»Er fühlt sich als Opfer. Ich armes Wesen, ich habe so starke Gefühle, ich kann sie einfach nicht unterdrücken.«
Skarres Stimme triefte vor Ironie.
»Er versucht doch nur, ein Problem zu lösen«, sagte Sejer. »Waren wir uns da nicht einig?«
»Er ist die Straße entlang gefahren«, sagte Skarre, »er hat ein Kind mitgenommen, das ist entsetzlich.«
Sie blieben eine Weile stehen und sahen sich um, das Rauschen der hohen Bäume versetzte sie in eine wehmütige Stimmung. Skarre ging zu dem Holzstapel, auf dem Kristine Ris am 4. September gesessen hatte, er setzte sich auf einen Baumstamm und zündete sich eine Prince an.
»Egal wie«, sagte er voller Überzeugung, »ihm geht es nicht gut. Er findet wahrscheinlich nicht eine Sekunde am Tag Frieden. Die Vorstellung der Verurteilung macht ihm eine Wahnsinnsangst. Die Vorstellung von Schande und Schlagzeilen. Vielleicht stirbt er daran.«
Er zog wütend an seiner Zigarette. »Es kommt vor, dass jemand an so etwas stirbt.«
Sejer setzte sich neben ihn.
»Von uns wird erwartet, dass wir lieben und geliebt werden«, sagte er. »Aber der Pädophile muss sich am Riemen reißen. Aber trotzdem. Die Liebe ist ja für niemanden einfach. Alle gehen auseinander.«
Er unterbrach sich, denn er hatte nicht das Gefühl, auf sicherem Boden zu stehen.
»Wie ist das eigentlich mit dir? Du bist immer noch allein?«
Skarre lächelte strahlend.
»Was soll ich mit einer Frau?«, fragte er. »Ich hab doch dich.«
Später fuhren sie zum Knabenstrand und setzten sich auf den Steg. Einen Moment lang genossen sie das ganz besondere Gefühl, das Menschen am Wasser überkommt. Sejer versuchte, den Grund zu erkennen, was aber nicht
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