Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
Wahrheit im Laden, die Wahrheit über den Zaun zu den Nachbarn, die Wahrheit Handelsvertretern gegenüber und mir gegenüber natürlich auch. Dass ich nichts fürs Auge sei, dass ich nicht so schnell denken könne. Sie hackte auf mir und Vater herum. Er lief bei jeder kleinsten Gelegenheit aus dem Haus, erfand Dinge, die er hier und dort erledigen musste, denn er ertrug die ewigen Zurechtweisungen nicht. Und dann waren sie auch ein seltsames Paar, diese beiden, denn Mutter war vierschrötig und laut und maskulin, während Vater zart und feminin war, alles war sozusagen verkehrte Welt bei uns, wenn Sie verstehen. Und es kam vor, dass sie mich aussperrte. Ich meine, wenn ich zu spät kam, wenn sie mir eine Uhrzeit genannt hatte und ich nicht pünktlich war, dann musste ich auf der Treppe sitzen, bis sie sich herabließ, die Tür zu öffnen. Dann sah sie mich an, mit aufgesetzter Unschuld, und sagte, ja du meine Güte, sitzt du hier? Einmal, im Winter, bin ich an der obersten Treppenstufe festgefroren. Ein anderes Mal gab ich den Versuch, ins Haus zu gelangen, ganz auf, ich ging in den Keller. Und da verbrachte ich die Nacht auf einigen alten Jutesäcken.«
    Er machte eine hilflose Handbewegung. »Das waren traurige Zeiten für einen kleinen Jungen.«
    »Lebt sie noch?«, fragte Sejer.
    »Sie hatte Krebs«, erklärte Brein, »ihr Körper war voll davon, sie hatte überall Geschwülste. Eins saß in der Augenhöhle, es drückte ihr Auge auf eine widerliche Weise heraus, wissen Sie, man hatte Angst, es könnte plötzlich herausspringen. Ich wusste nicht, wohin ich blicken sollte. Man kann schon sagen, dass sie ihre Strafe dafür bekam, dass sie uns so vernachlässigt und schlecht behandelt hatte, denn sie musste über ein Jahr mit schlimmen Schmerzen im Bett liegen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich neben ihr gesessen und gewartet habe, ich habe auf ihren Atem gelauscht und von ganzem Herzen gehofft, dass sie stirbt. Aber immer überwand sie die Krise und dann ging es wieder los mit Jammern und Klagen. Ich kann mich noch gut an ihren letzten Augenblick erinnern. Ich saß auf einem Stuhl und döste, und plötzlich öffnete sie die Augen und schrie. Jetzt reicht es aber! Und das war ihr letzter Ausruf, dann war sie nicht mehr da.«
    »Wie haben Sie Auslauf für Ihre Begierden gefunden?«, fragte Sejer. »Ich gehe davon aus, dass Sie eine Strategie hatten?«
    Brein faltete die Hände auf dem Tisch. Seine Finger waren lang und dünn und hatten spitze Knöchel.
    »Ich habe Bilder genommen, die ich in Zeitungen und Zeitschriften fand, Bilder von kleinen Jungen. In Schlafanzug oder Badehose. So bin ich irgendwie zurechtgekommen. Aber als Erwachsener habe ich dann eine Entscheidung getroffen, ich war fest entschlossen, mir ein richtiges Leben aufzubauen, ein Leben, wie es die anderen hatten. Ich wollte wie andere sein, das war wichtig für mich. Ich habe Verwandte im Norden. Auf einer Reise nach Kirkenes habe ich eine Russin kennengelernt. Es kommen ja viele von ihnen über die Grenze, und sie haben unterschiedliche Gründe, Irina jedenfalls stand auf dem Markt und verkaufte Stickereien. Und wenn diese Russinnen etwas können, dann sticken.«
    Er schaute rasch zu Sejer hinüber, als suche er nach Anzeichen für Verachtung, aber er fand nur Ernst und Geduld.
    »Wir kamen miteinander ins Gespräch«, sagte er, »und da habe ich sie zu einer Tasse Tee eingeladen, und wir haben stundenlang miteinander geredet. Drei Monate darauf haben wir geheiratet, und wir bekamen zwei Töchter.«
    »Haben sie Kontakt zu ihnen?«
    »Nein.«
    »Hätten Sie denn gern Kontakt?«
    »Ich habe doch sonst niemanden. Aber Irina hat mich wohl in ein schlechtes Licht gerückt, sie haben jedenfalls kein Interesse. Ich wüsste gern, was sie gesagt hat. Ich habe nicht gewagt zu fragen.«
    »Wie heißen Ihre Töchter? Und wie alt sind sie?«
    »Rita und Nadia, sie sind neunzehn und zweiundzwanzig.«
    »Fehlen sie Ihnen?«
    Brein seufzte.
    »Sie wissen ja, wie das ist. Von einem wie mir wollen sie nichts wissen. Sie sind feine Mädchen, aber ich halte mich lieber auf Distanz.«
    »Denken Sie so? Dass Sie sich verstecken müssen?«
    »Ja«, antwortete Brein. »So denke ich. Und so denken Sie auch. Sie würden uns ins Meer werfen, wenn Sie nur könnten.«
    Sejer musterte ihn ruhig. »Es gibt eindeutig Gründe dafür, dass Sie Ihre Veranlagung entwickelt haben«, sagte er, »es ist nicht sicher, dass Sie sich dafür schämen müssen. Einzelne Dinge liegen

Weitere Kostenlose Bücher