Wer bin ich ohne dich
sich selbst hält, ist von großer Bedeutung bei der Entwicklung von seelischer Widerstandsfähigkeit (die Psychologie spricht von »Resilienz«). Passiert etwas Unvorhergesehenes, Erschütterndes, neigen viele Menschen meist zu mentalen Abkürzungen. Um die Ursachen herauszufinden, um eine Erklärung für das Geschehen zu finden, bilden sie sehr schnell – oft zu schnell – Annahmen über sich und die Welt.
Depressive Menschen neigen nun noch mehr als andere zu diesen mentalen Abkürzungen – und werden von ihnen häufig in | 52 | die Irre geführt. Sie verfangen sich in der »kognitiven Triade der Depression«, wie es Aaron Beck, der Begründer der Kognitiven Verhaltenstherapie, genannt hat. Das heißt: Sie personalisieren, sie generalisieren, sie katastrophisieren. Wer diese drei Denkstile anwendet, glaubt automatisch, dass er selbst das Problem verursacht hat, dass es andauern wird und unveränderbar ist und dass auch andere Bereiche seines Lebens davon betroffen sein werden. Er wertet die Krise, in die er geraten ist, als persönliches Versagen, glaubt, dass es an seinen mangelnden Fähigkeiten liegt und dass er auch in Zukunft vom Pech verfolgt sein wird. Wer ein berufliches Projekt in den Sand gesetzt hat, sagt sich dann zum Beispiel: »Das war eine dumme Idee von mir, ich war ein Idiot zu denken, dass ich mich selbstständig und etwas aus meinem Leben machen kann. Mir wird nie wieder etwas gelingen.« Nicht depressive Menschen pflegen dagegen einen optimistischeren Erklärungsstil. Im Fall des gescheiterten beruflichen Projektes würden sie wahrscheinlich denken: »Die Idee war gut. Es war Pech, dass in der Nähe ein ähnlicher Laden aufgemacht hat. Ich sollte die Idee an anderer Stelle verwirklichen.« Eine unbestrittene Erkenntnis der Depressionsforschung lautet: Menschen, die kognitiv flexibel reagieren und in keine der genannten Denkfallen geraten, sind vor Depressionen geschützt.
Nun aber wird behauptet, dass die »kognitive Triade« bei Frauen häufiger anzutreffen sei als bei Männern. Weil ihr Selbstwert, so die Erklärung der Wissenschaftler, stark von anderen Menschen und deren Anerkennung abhängt, neigen sie dazu, sich selbst abzuwerten, anderen und der Zukunft zu misstrauen. Frauen haben nach dieser Erklärung eine abhängige Persönlichkeitsstruktur, ziehen ihren Selbstwert aus zwischenmenschlichen Beziehungen und haben ein großes Bedürfnis nach sicheren Bindungen und sozialer Unterstützung. Belastende zwischenmenschliche Ereignisse haben deshalb bei Frauen eine stärkere depressi | 53 | onsauslösende Wirkung, weil sie sich sehr viel mehr Gedanken darüber machen und sich schnell in die Verantwortung nehmen. Männer dagegen besitzen eine autonomere Persönlichkeit, die sie unabhängiger von anderen, deren Verhalten und deren Meinungen macht.
Frauen, so die Annahme der Depressionsforschung, neigen zu einem Denk- und Attributionsstil, der sie dazu verleitet, sich schnell und bereitwillig in die Verantwortung zu nehmen und in die Falle der kognitiven Triade zu geraten. Der Psychologe Guy Bodenmann von der Universität Fribourg hat mit Paaren eine Studie durchgeführt, welche die unterschiedlichen Denkstile der Geschlechter bestätigt:
70 Paaren wurde gesagt, sie würden an einem »Paar-Intelligenztest« teilnehmen. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um einen Test, der den Umgang mit Stress messen sollte. Das Paar bearbeitete getrennt voneinander einen angeblichen Intelligenztest. Über eine Gegensprechanlage konnten sie sich über die Aufgaben austauschen. Um Botschaften senden und empfangen zu können, mussten sie einen Code eingeben. Wenn einer der Partner dreimal hintereinander die Gegensprechanlage falsch bediente, wurde der Test abgebrochen. An dieser Stelle hatten die Forscher aber Fehlerquellen eingebaut. Die Versuchsleiter manipulierten die Fehlerleistung und wiesen einmal der Frau, einmal dem Mann die angebliche Schuld am Testabbruch zu. Wie reagierten die Teilnehmer auf ihren angeblichen Misserfolg? Wie veränderte sich ihre Befindlichkeit?
Vor der Testphase unterschieden sich Männer und Frauen in ihren Stimmungswerten nicht. Doch bereits während des Tests erlebten sich die Frauen als deutlich deprimierter – ein Unterschied, der auch nach dem Ende des Tests und dem Misserfolg stark ausgeprägt war. Diesen Geschlechterunterschied führten Bodenmann und sein Team auf den unterschiedlichen kogniti | 54 | ven Verarbeitungsstil von Männern und Frauen zurück. So war es
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