Wer bin ich ohne dich
Vorstellung, wie gefährlich die Situation für ihr Kind gewesen ist, nicht lösen kann. Dann macht sie sich Vorwürfe und ihre Gedanken kreisen ständig um das Geschehene: »Ich hätte besser aufpassen müssen. Wenn dem Kind etwas zugestoßen wäre! Ich bin keine gute Mutter.« Kann sie diese Gedanken nicht stoppen, bleibt ihr Körper in der Stressreaktion hängen, die Stresshormone bleiben auf hohem Niveau. Hält diese Grübelei an, ist eine depressive Verstimmung, wenn nicht gar eine Depression mit Krankheitswert eine mögliche Folge.
Dass depressive Menschen aus einer anfangs notwendigen und verständlichen Stressreaktion nicht mehr herausfinden, also Stress | 59 | nicht angemessen verarbeiten, belegen Studien: Danach haben depressiv Erkrankte einen erhöhten Spiegel des Stresshormons Kortisol im Blut, was auf eine schlechte Stressverarbeitung hinweist. Während sich der Kortisolspiegel bei gesunden Menschen nach einer stressigen Situation immer wieder normalisiert, herrscht im Gehirn von Depressiven eine Art Daueralarm.
In den meisten Veröffentlichungen wird der Eindruck erweckt, dass das viele Grübeln ein Fehler, eine Macke der Frauen sei, die sie mit geeignetem Training abstellen könnten. Doch damit tut man Frauen Unrecht. Denn wenn man genau nachfragt, worüber sie sich Gedanken machen, kommt man nicht umhin festzustellen: Frauen haben tatsächlich sehr viel mehr Grund zum Grübeln als Männer, weil es in ihrem Leben mehr Anlässe zur Sorge gibt. Zudem können sie nicht wegsehen, wenn sie merken, dass jemand Hilfe, Zuwendung und Unterstützung benötigt. Sie können nicht wegsehen, wenn die Kinder Ärger in der Schule haben, ein Elternteil pflegebedürftig wird, ein Freund in eine persönliche Krise gerät, die Nachbarin Unterstützung benötigt oder der Partner Ärger im Beruf hat. Frauen haben längere soziale Antennen als Männer, sensibel nehmen sie Leid und Nöte anderer wahr. Die Sorgen der Mitmenschen werden schnell zu ihren Sorgen. Zudem leisten sie »Beziehungsarbeit«. Das Motto »Ich will, dass es dir/euch gut geht!« prägt ihr Handeln. Sie fühlen sich für das Klima in Partnerschaft und Familie und für das Wohl der anderen zuständig.
Berücksichtigt man dann noch, dass Frauen aufgrund ihrer Lernerfahrungen weniger Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit besitzen und sich in Stresssituationen dadurch oft ohnmächtig fühlen, dann wird deutlich, dass es nicht am Unvermögen der Frauen liegt, mit Stress angemessen fertig zu werden. Susan Nolen-Hoeskema schreibt: »Frauen tragen eine Trias von Verletzlichkeiten im Vergleich zu Männern: mehr chronischen | 60 | Stress, eine größere Neigung zum Grübeln, wenn im Stress, und ein geringeres Gefühl der Kontrolle über ihr eigenes Leben. Diese Variablen hängen miteinander zusammen.«
Die frühe Kindheit: Ein Faktor, der bei keiner depressiven Erkrankung übersehen werden darf, sind die Umstände, unter denen ein betroffener Mensch aufwachsen musste. Unter Depressionsexperten herrscht in diesem Punkt zweifelsfreie Übereinstimmung: Negative Erfahrungen der frühen Kindheit können für die Entwicklung einer Depression verantwortlich sein. Dies gilt für Frauen wie für Männer gleichermaßen.
Die Art und Weise, wie ein kleines Kind seine nahe Umwelt erlebt, ob es sich geliebt oder vernachlässigt fühlt, ob es Förderung und Unterstützung erfährt oder Missbrauch und Gewalt erlebt, spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob es später als Erwachsener selbstbewusst und frei von Depression leben kann. Das, was ein Kind in den ersten Lebensjahren erlebt und erfährt, kann im späteren Leben zu ganz spezifischen seelischen Problemen führen. So ist die Wahrscheinlichkeit, eine psychische oder psychosomatische Erkrankung zu entwickeln, für jene Menschen um das 5- bis 20fache erhöht, deren frühe Kindheit stark belastet war.
Emotionale Vernachlässigung ist der Hauptrisikofaktor für spätere gesundheitliche und psychische Probleme, darin sind sich Experten einig. Als emotional vernachlässigt gilt ein Kind dann, wenn es von seinen engsten Bezugspersonen ignoriert, abgelehnt oder abgewertet wird, wenn die Eltern es überfordern, überbehüten, es in seinem Erkundungsdrang einengen oder es zur Befriedigung eigener Bedürfnisse missbrauchen. Auch wenn ein Kind nicht angemessen gefördert und ihm kindgerechte Erfahrungen verwehrt werden, spricht man von emotionaler Vernachlässigung. | 61 |
Die Forschung zum Einfluss frühkindlicher negativer
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