Wer bin ich ohne dich
sie sich ausgeliefert und inkompetent. Sie glauben nicht mehr an ihre eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen und fühlen sich wertlos. Sie grübeln dann über ihr Versagen, versinken in ihren Sorgen und sehen oft keinen Ausweg mehr. Sie werden depressiv.
Das Gefühl »Alles hat keinen Sinn«, »Ich kann gar nichts machen, ich bin hilflos« ist typisch für alle depressiv Erkrankten. »Erlernte Hilflosigkeit«, so der Sozialpsychologe Martin Seligman, ist ein wichtiges Merkmal der Depression. Sie entsteht, »wenn ein Individuum lernt, dass seine Reaktionen unabhängig von Verstärkungen sind; insofern legt das Modell nahe, als Ursache für Depression die Überzeugung anzusehen, dass Reagieren zwecklos ist.« Aufgrund von negativen Erfahrungen entsteht der Eindruck, keinerlei Kontrolle über eine Situation oder über Menschen zu haben. Alle Menschen, die lang andauernd dieses Gefühl der Ohnmacht erleben, haben ein hohes Risiko, depressiv zu werden.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Frauen häufiger als Männer das Gefühl der Hilflosigkeit überfällt und dass sie glauben, keinen Einfluss auf Situationen oder Menschen zu haben. Doch auch dieser Geschlechterunterschied ist nicht auf die Persönlichkeit von Frauen zurückzuführen. Wie Seligman gezeigt | 57 | hat, wird Hilflosigkeit erlernt – und Frauen scheinen mehr einschlägige Lernerfahrungen machen zu müssen. Wie die Wissenschaftlerin Susan A. Hurst in Gesprächen mit depressiven Frauen herausfand, fühlten sich alle von wichtigen Personen in ihrem Leben respektlos behandelt und im Stich gelassen. Das führte bei den Frauen zu dem Gefühl, dass es niemanden gab, der sich um sie und ihre Probleme kümmerte. Sie glaubten, keinerlei Kontrolle über ihr Leben mehr zu haben. Aufgrund des bisher Erlebten fürchteten sie, dass nichts ihre Situation zum Besseren verändern kann. Diese Frauen fühlten sich völlig demoralisiert. Hier klingt erneut an, wie wichtig Beziehungen im Leben von Frauen sind und wie deren Vorhandensein und deren Qualität Einfluss nimmt auf die seelische Gesundheit.
Frauen grübeln zu viel: Übereinstimmend taucht in der Literatur zum Thema »Frauen und Depression« der Hinweis auf, dass Frauen mit negativen Ereignissen und Gefühlen selbstwertschädlich umgehen: Sie neigen zum Grübeln. Grübeln aber kann ein direkter Weg in die Depression sein.
Die amerikanische Psychologin Susan Nolen-Hoeksema erforscht seit über 20 Jahren den Zusammenhang von Grübeln und Depression und stellt immer wieder fest: Frauen grübeln deutlich mehr als Männer. Sie machen sich zu viele Gedanken über sich und ihr Leben. Vor allem wenn ihnen etwas nicht gelungen ist oder sie einen Fehler gemacht haben, quälen sie sich mit typischen Grübeleien wie »Warum bringe ich nur nichts auf die Reihe?«, »Warum schaffe ich es nicht, mein Leben besser in den Griff zu bekommen?«, »Warum nur ist mir dieser Fehler unterlaufen?«, »Warum gelingt anderen das Leben besser?«.
Frauen denken aber nicht nur unentwegt darüber nach, was ihnen passiert ist oder was sie angeblich falsch gemacht haben, sie grübeln auch deutlich mehr über die Probleme anderer Men | 58 | schen. Sie sorgen sich um das Kind, das in der Schule gemobbt wird, und fragen sich, ob sie daran schuld sind, weil sie nicht genug Zeit mit Sohn oder Tochter verbringen; sie sorgen sich um den Gesundheitszustand der alten Eltern und grübeln, was werden soll, wenn diese mal nicht mehr selbstständig leben können; sie sorgen sich um die Freundin, die in ihrer Ehe unglücklich ist. Das alles fördert nicht die Stimmung. Grübeln macht niedergeschlagen – und diese Niedergeschlagenheit kann unter Umständen in eine Depression umschlagen. Vor allem wenn Frauen aus Stresssituationen nicht mehr herausfinden, sind sie in Gefahr.
Ein kleines, eher banales Beispiel verdeutlicht, wie man durch Grübeln in die Stressfalle geraten kann: Eine Mutter sieht, wie ihr Kind seinem Ball nachläuft, auf die Straße gerät, stolpert und hinfällt. Gleichzeitig nimmt sie aus den Augenwinkeln ein Auto wahr. Sie erschrickt fürchterlich, ihr Gehirn empfängt das Signal: »Gefahr!« und schüttet eine Kaskade an Stresshormonen aus, unter anderem die Hormone Kortisol und Adrenalin. Reaktionsschnell rennt die Mutter zu ihrem Kind und zerrt es gerade noch rechtzeitig von der Straße – Gefahr gebannt, die Situation ist unter Kontrolle. Die Mutter entspannt sich. Normalerweise. Denn nun kann es passieren, dass sie sich von der
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