Wer bin ich ohne dich
Erfahrungen auf die Entwicklung depressiver Erkrankungen lässt keinen Zweifel daran, dass frühkindlicher Stress ein starker Risikofaktor ist. Studien zeigen, dass Menschen, die in ihrer frühen Kindheit großem Stress ausgesetzt waren, auch als Erwachsene noch einen erhöhten Stresshormonspiegel aufweisen und überdurchschnittlich häufig unter Depressionen leiden. Frühe negative Erfahrungen hinterlassen, so haben Neuropsychologen festgestellt, eine »biologische Narbe«, einen »biologischen Fingerabdruck« im Gehirn, der den betroffenen Menschen sensibler auf weitere Belastungen reagieren lässt. Ein in seiner Kindheit emotional vernachlässigter Mensch wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Leben lang Schwierigkeiten haben, mit Stresssituationen angemessen umzugehen und stabile, sichere Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen. Denn all die verunsichernden und schmerzhaften Erfahrungen, die er als kleines Kind machen musste, führen zu einem Grundgefühl, das sein gesamtes Leben beeinflussen kann: dem Gefühl der Hilf- und Hoffnungslosigkeit.
Dass dieses Gefühl durch frühe Lernerfahrungen entsteht, hat der Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby in seiner »Bindungstheorie« eindrucksvoll aufgezeigt. Wie Bowlby erklärte, ist ein Mensch vor allem dann gefährdet, im späteren Leben an Depression zu erkranken, wenn er in seinen frühen Jahren »die bittere Erfahrung gemacht (hat), nie eine stabile und sichere Beziehung zu seinen Eltern erreicht zu haben, obwohl er sich immer wieder darum bemühte und auch sein Bestes tat, um ihre Forderungen und vielleicht unrealistischen Erwartungen zu erfüllen. Diese Kindheitserfahrungen führen dazu, dass er eine starke Neigung entwickelt, jeden Verlust, den er später erleiden mag, als ein weiteres eigenes Versagen bei der Herstellung oder Aufrechterhaltung einer stabilen affektiven Beziehung zu deuten.« | 62 | Negative Erlebnisse in den ersten Lebensjahren, so Bowlby, führen dazu, dass ein Mensch ein »Modell seiner selbst als unliebenswert und unerwünscht entwickelt und ein Modell seiner Bindungsfiguren als wahrscheinlich nicht verfügbar oder zurückweisend oder strafend. Wann immer ihm ein Unglück zustößt, erwartet ein solcher Mensch daher nicht, dass andere hilfreich sind, sondern vielmehr, dass sie feindselig und zurückweisend sind.«
Bindungsforscher nehmen an, dass die ersten drei Lebensjahre für die Entwicklung eines sicheren Bindungsstils ganz entscheidend sind. Macht das Kind in diesem Zeitraum keine oder nur wenige positive Erfahrungen mit der bemutternden Person, dann kann das unter Umständen fatale Folgen haben. Denn die Beziehungsregeln, die es in dieser Zeit lernt, sind nur schwer zu verändern und können es für den Rest seines Lebens beeinflussen – im Guten wie im Schlechten.
Fehlte es beispielsweise einer Frau in ihrer Kindheit an Stabilität und Sicherheit, war das emotionale Klima in der Familie kalt und unberechenbar, dann hat sie möglicherweise ein Grundgefühl entwickelt, von allen Menschen verlassen und ganz auf sich allein gestellt zu sein. Sie fühlt sich schnell im Stich gelassen, vor allem in Liebesbeziehungen. Sie glaubt nicht, dass andere verlässlich für sie da sein können, und neigt deshalb zu anklammerndem, kontrollierendem Verhalten. Allein wenn der Partner nur distanziert oder abwesend wirkt, kann das schon die alten Ängste aktivieren. Frauen mit einem solchen Kindheitsmuster neigen zu extremer Eifersucht, können Trennungen kaum ertragen und wittern sehr schnell Untreue. Um diese negativen Gefühle zu vermeiden, gehen sie aus Selbstschutz oftmals keine engen Beziehungen ein und sorgen von sich aus immer wieder für emotionale oder auch räumliche Distanz. Das Gefühl der Verlassenheit entsteht meist sehr früh, noch ehe das Kind sprechen kann. Betroffene Frauen haben deshalb oftmals keine konkreten Erinne | 63 | rungen an früher und können sich ihre ständige Furcht, verlassen zu werden, nicht erklären.
Corinna ist eine erfolgreiche Sozialarbeiterin. Im Jugendamt ihrer Stadt ist sie zuständig für die Betreuung von adoptionswilligen Paaren und Pflegeeltern. Sie weiß, was Kinder brauchen, damit sie gedeihen und sich entfalten können. Sie selbst hatte eine glückliche Kindheit, ihre Eltern, so erzählte sie lange Zeit, waren etwas Besonderes. Der bewunderte Vater war aus beruflichen Gründen viel unterwegs, die attraktive und lebenslustige Mutter überließ Corinna und ihren um zwei Jahre jüngeren Bruder
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