Wer bin ich ohne dich
autonome, und Experten verorten sie vor allem beim weiblichen Geschlecht. Hat eine Frau in ihrer Kindheit wenig Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit erfahren, versucht sie später in ihren Partnerschaften ihr Bedürfnis nach Nähe zu befriedigen, indem sie bedingungslos für den Partner oder auch für andere Familienmitglieder da ist. Sie verlangt nichts für sich und hofft, dass sie sich durch ihre Unterstützung bei anderen unentbehrlich machen kann. Solange sie gebraucht wird, kann sie ihre Angst vor dem Verlassenwerden in Schach halten. Sie würde alles tun, nur damit die Beziehung funktioniert oder die Familie zusammenbleibt. Weil sie bereits als Kind gelernt hat, dass sie nicht mit Liebe überschüttet wird, ist sie oftmals auch sehr lange bereit, Kälte, Zurückweisung und Lieblosigkeit in ihren Beziehungen hinzunehmen. Sie hofft auf Veränderung und glaubt, wenn sie es | 66 | dem oder den anderen recht macht, wird sich eines Tages schon alles zum Guten verändern.
Zudem sind depressive Frauen schnell bereit, die Verantwortung zu übernehmen, wenn irgendetwas in der Beziehung, in der Familie oder in Freundschaften nicht rund läuft. Sie glauben, es sei allein ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Beziehung funktioniert. »In engen Beziehungen ist es meine Verantwortung, den anderen glücklich zu machen« oder »Ich glaube, ich muss mich in ganz bestimmter Weise verhalten, um den Partner zu erfreuen« – das sind typische Aussagen von depressiven Frauen. Menschen mit soziotroper Depression reagieren auf den Verlust von Beziehungen depressiv.
Autonom-depressive Menschen, unter denen mehrheitlich Männer sind, suchen Anerkennung weniger in Beziehungen. Für sie zählen Leistung und das Gefühl, unabhängig von anderen existieren zu können. Die Bedürfnisse anderer werden eher ignoriert, nicht zuletzt aus der Angst heraus, dass zu viel Nähe nur Enttäuschung bedeutet. Während eine soziotrope Persönlichkeit auf Beziehungsschwierigkeiten und -abbrüche heftig reagiert, ist es für eine autonome Persönlichkeit sehr viel dramatischer, wenn sie scheitert oder Misserfolge verkraften muss. Diese Menschen reagieren auf solche Lebenserfahrungen häufig mit Aggression, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Arbeitswut.
Was also macht Frauen depressiv?
Will eine Frau herausfinden, warum sie depressiv geworden ist und warum es so große Geschlechtsunterschiede bei der unipolaren Depression gibt, hatte sie bisher die Wahl zwischen folgenden Erklärungsmodellen: | 67 |
Sie ist selbst schuld an der Diagnose Depression, weil sie zu offen und bereitwillig Ärzten gegenüber ihre Befindlichkeitsstörung zugibt und dadurch die Mediziner regelrecht zur Diagnose Depression verleitet.
Vorgänge in ihrem Körper werden als Auslöser für depressive Stimmungen verantwortlich gemacht. Ob prämenstruelles Syndrom, postnatale Depression oder Wechseljahre – wenn die Hormone verrückt spielen, dann reagiert auch die betroffene Frau verrückt. Die Schlussfolgerung, dass sie in bestimmten Phasen ihres Lebens nicht wirklich ernst genommen werden kann, liegt dann auf der Hand. Aber das ist nicht weiter schlimm, so die weit verbreitete Botschaft, denn mit geeigneten Medikamenten, die den Hormonhaushalt wieder ausgleichen, lässt sich das Problem lösen. Diese Medikalisierung der Krankheit Depression führt dazu, dass die betroffenen Frauen selbst (und auch ihre Partner und Familienangehörigen) dazu neigen, die Probleme nicht ernst zu nehmen, sondern auf »besondere Umstände« zu schieben: »Mir geht es nicht gut, weil ich meine Periode habe, weil ich in die Wechseljahre komme, weil es Winter wird …« Die betroffenen Frauen erklären ihr Unglücklichsein, ihren Ärger, ihre Ungeduld, ihre Schlaflosigkeit, ihre Fressanfälle oder ihre Kopfschmerzen mit hormonellen Vorgängen in ihrem Körper. Unterstützt von Experten pathologisieren sie ihr Unglücklichsein und lassen sich oftmals allzu bereitwillig darauf ein, das Problem mit Medikamenten zu lösen.
Eine andere Ursachenvermutung sieht in gewissen Persönlichkeitseigenschaften von Frauen ein erhöhtes Risiko: Frauen machen sich zu viele Sorgen, sie grübeln zu viel, haben ein zu geringes Selbstwertgefühl, sind zu dünnhäutig, nehmen zu schnell etwas persönlich. | 68 |
Fast alle depressiv Erkrankten, gleichgültig ob Mann oder Frau, mussten in ihrer Kindheit negative Erfahrungen verkraften und bringen von daher eine besondere Verletzlichkeit mit.
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