Wer bin ich ohne dich
meist der Obhut eines Kindermädchens. Kam der Vater von seinen Reisen zurück, war die kleine Tochter schon Tage vorher vor Glück ganz aufgeregt. Sie konnte es gar nicht erwarten, bis der Vater wieder da war. Wenn er die Tür aufschloss, stürmte sie ihm entgegen und wurde von im ebenso stürmisch begrüßt. Er hob sie hoch, schleuderte sie durch die Luft, küsste sie, setzte sie wieder auf die Erde – und wandte sich dann mit großer Leidenschaft seiner Ehefrau zu. Diese wurde mit Geschenken überschüttet, und den Kindern schenkte der Vater keine Beachtung mehr. Diese regelmäßige Enttäuschung führte bei Corinna dazu, dass sie sich schnell und heftig in »interessante« Männer verlieben konnte, dass sie aber gleichzeitig vor einer engeren Bindung regelmäßig zurückschreckte. Nach mehreren an ihrem Verhalten gescheiterten Beziehungen kam sie mit schweren Depressionen in die Therapie: Sie fühlte sich ungeliebt, im Stich gelassen und fürchtete, den Rest ihres Lebens alleine verbringen zu müssen.
Musste eine Frau als Kind zu wenig Liebe und Fürsorge verkraften, glaubt sie möglicherweise auch im späteren Leben oft, für niemanden auf der Welt wirklich wichtig zu sein. Ein tiefes Gefühl der Leere führt zu hohen Ansprüchen an andere: Was auch immer diese anbieten – es reicht nicht. Der Ursprung dieses verzweifelten Gefühls liegt in der Einsamkeit, die das kleine Kind | 64 | bewältigen musste. Die Bezugsperson, meist die Mutter, war zwar anwesend, hat sich aber nicht angemessen um das Kind gekümmert. Sie hat ihm nicht die Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit und Bewunderung geschenkt, die es gebraucht hätte, um sich geliebt und wertgeschätzt zu empfinden. Frauen mit diesen frühen Erfahrungen fühlen sich häufig zu abweisenden, wenig herzlichen Menschen hingezogen und haben in diesen Beziehungen wiederum das altvertraute Gefühl: Ich bin nichts wert.
Das Gefühl der Wertlosigkeit ist meist auch der Grund, wenn sich eine Frau bereitwillig in die zweite Reihe stellt und sich den Bedürfnissen und Geboten anderer Menschen anpasst. Weil sie früh gelernt hat, dass die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ideen nicht gefragt sind, meint sie auch als Erwachsene, keine Erlaubnis für das eigene Wünschen und Wollen zu haben. Sie wuchs mit Eltern auf, die ihr keinerlei Freiraum ließen, sie vernachlässigten oder bedrohten, wenn sie nicht die elterlichen Erwartungen genau erfüllte. Als Kind erkannte sie schnell, dass sie nur dann in Frieden leben konnte, wenn sie sich möglichst unsichtbar machte und mit großer Einfühlung erspürte, was die Eltern brauchten und wollten. Darin erlangte sie eine solche Perfektion, dass sie als Erwachsene oft ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr kennt. Sie passt sich bereitwillig anderen an, will ihnen gefallen und möglichst alles recht machen. Sie neigt dazu, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, weil sie fürchtet, von anderen als egoistisch, angeberisch und eitel angesehen zu werden.
Überzogene Erwartungen an sich selbst können ebenfalls eine Folge negativer Kindheitserfahrungen sein. Viele Frauen sind extrem leistungsorientiert, das Tun bestimmt ihr Leben. Sie glauben, wenn sie sich nur genug anstrengen, könnten sie perfekt sein und würden dann endlich die Anerkennung bekommen, nach der sie sich so sehr sehnen. Diese Frauen stehen unter starkem Druck, sie können nicht locker lassen, sind sich und anderen ge | 65 | genüber äußerst kritisch und legen die Messlatte für sich selbst immer höher. Die Ursprünge liegen häufig in einem überzogenen Leistungsanspruch der Eltern, die sich selbst gegenüber hohe Maßstäbe hatten oder ihrem Kind immer das Beste abverlangten (wobei das Beste nie gut genug war).
Frühe Kindheitserfahrungen spielen also ganz sicher eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Depression – und das gilt für beide Geschlechter. Allerdings zeigt sich die Depression der Männer auf andere Weise als die der Frauen. Sozialpsychologen unterscheiden zwischen einer sogenannten »soziotropen« und einer »autonomen« Reaktion. Für Menschen mit einer soziotropen Persönlichkeit haben Beziehungen einen enorm hohen Stellenwert. Sie sind stark von anderen und deren Anerkennung abhängig, belastende zwischenmenschliche Probleme können bei ihnen schneller eine Depression auslösen als bei Menschen mit autonomer Persönlichkeit, die auf emotionale Unabhängigkeit bedacht sind.
Die soziotrope Form der Depression ist häufiger als die
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