Wer bin ich ohne dich
Erklärungen sind nicht falsch. Die genannten Faktoren spielen bei der Entstehung einer Depression in der Tat eine Rolle. Aber die Frage, warum das Depressionsrisiko von Frauen doppelt so hoch ist wie das der Männer, können sie nicht befriedigend beantworten. Depressionsforscher gehen heute davon aus, dass bei der Entstehung einer depressiven Erkrankung biologische , psychische und soziale Faktoren zusammenwirken. Zieht man dieses bio-psycho-soziale Modell auch bei der Frage nach den Entstehungsbedingungen der weiblichen Depression heran, wird deutlich, dass biologische Faktoren (Hormone, Gene) und psychologische Aspekte (frühe Kindheit, Persönlichkeitseigenschaften) alleine die hohe Erkrankungsrate von Frauen nicht erklären können. Es müssen die sozialen Aspekte mitberücksichtigt werden. Und gerade diese geraten bei der Diskussion der weiblichen Depression meist in den Hintergrund.
Erst wenn besondere Lebensumstände (Stresserfahrungen oder Erfahrungen in Beziehungen) zu eventuell vorhandenen Verletzlichkeiten (traumatische Kindheitserfahrungen, hormonelle Schwankungen) hinzukommen, kann sich eine Depression entwickeln. Anders ausgedrückt: Ob hormonelle Veränderungen, genetische Veranlagungen oder weibliche Persönlichkeitseigenschaften eine Depression auslösen oder nicht, hängt entscheidend vom Ausmaß des erlebten Stresses und der Qualität von Bindungen ab. So wird deutlich, warum nicht jede Frau in »hormonell kritischen« Lebensphasen eine Depression entwickelt und warum Frauen mit einer schweren Kindheit im späteren Leben wiederum seelisch gesund und widerstandsfähig sind.
Es sind nicht die Hormone, es ist nicht die Genetik, es sind | 69 | nicht typisch weibliche Eigenschaften, die die Frauen depressiv werden lassen. Ausschlaggebend sind vielmehr ihre Erfahrungen, die sie in Beziehungen machen, und es sind die vielfältigen, spezifisch weiblichen Stresserlebnisse, die sie irgendwann nicht mehr verkraften können. Eine glückliche Frau kann unter Hormonschwankungen leiden, ohne depressiv zu werden. Eine unglückliche Frau aber kann durch verrückt spielende Hormone ihre letzte Kraft verlieren und deshalb durch den Verlust von Beziehungen oder durch den Verlust der Hoffnung auf Unterstützung depressiv werden. Vor allem, wenn der Stress in ihrem Leben das Normalmaß längst überschritten hat. | 70 |
»Ich bin doch nicht depressiv!«
Wie Frauen sich ihre Krankheit erklären
Bekommt eine Frau von ihrem Hausarzt oder einer Psychotherapeutin die Diagnose Depression, reagiert sie meistens mit Abwehr: »Ich bin doch nicht depressiv!«, »Ich bin doch nicht verrückt!« Diese Reaktion ist verständlich, denn die Krankheit Depression hat trotz aller Aufklärung darüber immer noch ein negatives Image. Auch wenn über depressive Prominente wie die Fußballer Robert Enke und Sebastian Deisler ausführlich berichtet wird und man inzwischen sehr viel mehr über die Depression weiß, fällt es Betroffenen immer noch sehr schwer, diese Diagnose zu akzeptieren. Depressiv sein, das bedeutet für die meisten: Ich bin schwach, ich habe die an mich gestellten Anforderungen nicht geschafft, vielleicht auch: Ich habe eine Macke. Und Fragen tauchen auf: Wie soll ich es meinem Arbeitgeber, meinen Kollegen und Kolleginnen sagen, wie reagiert die Familie? Werden sie mich noch als »normal« betrachten?
Auch die Psychologin und Autorin Merle Leonhardt hat sich zunächst gegen die Diagnose Depression gewehrt, wie sie in ihrem Buch Als meine Seele dunkel wurde beschreibt: »Bitte?! Ich habe doch keine Depression. Das wüsste ich. … Kleinere Stimmungseinbrüche hat doch jeder … Mein unstabiles Selbstwertempfinden hoffte ich ja unter ›normal‹ abheften zu können und abgesehen von den Zeiten, in denen ich mich fremd in meiner Haut fühlte, fühlte ich mich wohl bis großartig. Gut, da war die immer wiederkehrende Angst, aber das war wohl eher eine Sorge. | 71 | ›Angst‹ wäre eigentlich schon übertrieben. Und irgendwelche Sorgen macht sich doch jeder …«
Frauen, die den Namen des Schattens erfahren, der sich auf ihr Leben gelegt hat, begreifen diese Diagnose als Niederlage. Sie fühlen sich als Versagerinnen, weil ihnen nicht gelingt, was anderen keine Mühe zu machen scheint: ein glückliches Leben zu führen. Sie suchen die Schuld bei sich, sie glauben, dass sie sich nur noch mehr anstrengen und bemühen müssen, um die Depression zu bewältigen. Die meisten Frauen, die an Depression erkranken,
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