Wer bin ich ohne dich
Gesprächen.
Auch in diesen Beschreibungen tauchen die typischen Symptome der Depression auf. Doch darüber hinaus erfährt man noch sehr viel mehr, was für das Verständnis der weiblichen Depression ungemein wichtig ist. So unterschiedlich die Frauen auch waren, in ihren Äußerungen gibt es erstaunliche Gemeinsamkeiten. Die Befragten sprachen über
ihre anfängliche Verständnislosigkeit,
ihre Kindheit,
ihre konfliktreichen Beziehungen,
Probleme am Arbeitsplatz,
ihre Erwartungen an sich selbst,
ihre Sorge für und um andere,
ihre falschen Entscheidungen. | 74 |
Verständnislosigkeit: Was geschieht mit mir?
Es ist ein wesentliches Merkmal der Depression, dass die Betroffenen sich selbst ihren Zustand nicht erklären können. Frauen, die aus dem Dunkel der Depression herausgefunden haben, fühlten sich während ihrer Krankheit wie im Nebel, erlebten ihre Beziehungen als konfliktreich, erschöpften sich in der Sorge um andere. Sie kannten sich selbst nicht mehr. Eine unendliche Traurigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, sie fühlten sich bleiern müde, hatten das Gefühl, als seien ihre Gefühle eingefroren. Da waren keine Tränen, aber da war auch kein Lachen. »Wenn mich Freunde einluden, hatte ich immer eine Ausrede, warum ich nicht gehen konnte. Ich ging nicht zum Friseur oder so etwas. Das war zu anstrengend. Ich kümmerte mich nicht darum, wie ich aussah. Es war nicht wichtig«, erinnert sich eine Betroffene an die Zeit ihrer Depression.
Wie die Frauen in den Gesprächen mit den Wissenschaftlerinnen zugaben, hatten sie zu Beginn der Erkrankung das Gefühl, unvollständig zu sein. Sie fühlten sich nicht »ganz«, glaubten, wesentliche Seiten von sich nicht leben zu können. Allerdings wussten sie auch nicht, um welche Seiten es sich handelte. Die Frauen verstanden ihr Unwohlsein und ihre Unzufriedenheit nicht und konnten sich nicht erklären, warum sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sahen. Sie hatten wenig Verständnis für sich selbst. Eine Frau, Mutter eines sechsjährigen Kindes, erinnerte sich an dieses Gefühl der Sinnlosigkeit und ihre Verunsicherung: »Ich fühlte mich ängstlich, etwas nagte an mir all die Zeit und verlangte meine Aufmerksamkeit, aber ich wusste nicht, was es war … Ich wusste einfach nicht, was da mit mir passierte. Ich wusste nur, dass ich mich schrecklich fühlte und unglücklich und verängstigt … Und ich fühlte mich nicht ganz.« Ähnlich formulierte es eine andere Befragte: »Ich wusste nicht, was ich tun | 75 | sollte. Ich wusste, ich musste was tun, aber zunächst wusste ich nicht was.« Die Frauen hatten das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben und sahen sich nicht in der Lage, den Prozess zu stoppen.
Immer wieder tauchen in den Erzählungen der Frauen bildhafte Beschreibungen ihrer Situation auf: »Ich bin verloren gegangen, ich sehe mich getrennt von anderen, befinde mich auf einer Wolke, verloren im Meer, in einem tiefen Loch gefangen, vom Rest der Welt getrennt.« Manche dachten auch ständig ans Sterben, wussten aber zugleich, dass sie das eigentlich gar nicht wollten. Allerdings hielten sie den Tod oft für einfacher als das Leben. »Ich überlegte immer mal wieder: Wie einfach es wäre zu sterben! Aber eigentlich hatte ich keine ernsthaften Selbstmordgedanken, ich wollte nur verschwinden«, meinte eine von Rita Schreiber befragte Frau. Viele sagten, sie seien unfähig gewesen, durch den Tag zu kommen und fürchteten, dass das nun immer so bleiben würde.
All das machte ihnen große Angst. Diese Angst versuchten die Frauen zunächst zu ignorieren oder durch Aktionismus zu vertreiben: Sie arbeiteten noch mehr, sie strengten sich noch mehr an, sie waren noch hilfsbereiter, noch netter, noch perfekter.
Die Kindheit: Wie ich wurde, was ich bin
Die Frauen erzählten von ihren Eltern, die ihre kindlichen Bedürfnisse nicht erfüllen konnten. Einige meinten, ihre Eltern seien emotional kalt gewesen, man hätte von ihnen erwartet, dass sie ihre Gefühle kontrollieren, und sie hätten auch keine Vorbilder gehabt, wie man mit Gefühlen umgeht, weil ihre Eltern dazu selbst nicht in der Lage gewesen seien. Die Mutter einer befragten Frau beging Selbstmord, als sie 20 Jahre alt war. »Ich weiß nicht, warum meine Mutter sich umbrachte, aber im Rückblick | 76 | glaube ich, sie war schrecklich depressiv, und wir wussten das nicht.«
Andere Frauen kamen aus Familien, in denen sie mit Drogenmissbrauch oder körperlicher, auch sexueller Gewalt konfrontiert
Weitere Kostenlose Bücher