Wer bin ich ohne dich
wissen zwar, dass diese seelische Erkrankung längst ein Massenphänomen geworden ist. Dennoch fühlen sie sich, wenn es sie trifft, zunächst allein und isoliert.
Die Betroffenen können sich oft lange nicht erklären, was mit ihnen los ist. Und ebenfalls lange dauert es meist, bis sie effektive Hilfe bekommen. Diese traurige Tatsache gilt für alle Erkrankten, Männer wie Frauen. Nach einer Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München erhalten nur knapp 30 Prozent aller Depressiven die richtige Diagnose und eine optimale Behandlung, andere Schätzungen gehen von bis zu 50 Prozent falsch behandelter Fälle aus. Folgende Gründe sind dafür verantwortlich: Noch immer sind Hausärzte nicht ausreichend über depressive Erkrankungen informiert und stellen deshalb falsche Diagnosen. Hinzu kommt aber auch, dass die Erkrankten selbst eine Depression nicht als Krankheit, sondern als Schwäche ansehen, derer man sich schämen muss. Daher präsentieren sie dem Arzt häufig sozial akzeptierte Symptome wie chronische Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Migräne, Magenbeschwerden, Rückenschmerzen und vieles mehr. Und noch ein weiterer Grund verhindert oft, dass der behandelnde Arzt die Depression eines Patienten erkennt: Ein großer Teil der Betroffenen, schätzungsweise 30 Prozent, hat keine der typischen Depressionssymptome. Diese Erkrankten sind nicht antriebsgehemmt, freudlos, passiv, wie gelähmt und | 72 | verlangsamt in ihren Handlungen und ihrem Denken, sondern zeigen auf den ersten Blick ein für Depressionen untypisches Bild: Sie sind rastlos, treten selbstbewusst auf, sind leistungsorientiert und bemüht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Oft wird bei ihnen zunächst eine Erschöpfung wegen Überarbeitung oder ein Burnoutsyndrom diagnostiziert.
Andrea ist eine erfolgreiche PR-Frau in einem großen Unternehmen der IT-Branche. Sie ist beruflich sehr viel unterwegs, auch im Ausland. Ihr Leben ist spannend. Wenn da nur nicht ihre ständigen Rückenschmerzen wären. Seit über zwei Jahren sucht sie verschiedene Ärzte auf, um sich endlich wieder frei bewegen und nachts durchschlafen zu können. Die bisher eingesammelten Diagnosen lauten: Bandscheibenvorwölbung, Bandscheibenvorfall, Blockade des Iliosakralgelenks, massive Verspannung. Die Behandlungen reichen von der Verschreibung von Schmerzmitteln, Krankengymnastik, Osteopathie, zwei Klinikaufenthalten (einer in einer orthopädischen, einer in einer Schmerzklinik) bis hin zur Empfehlung einer Bandscheibenoperation. Erst sehr spät kam eine Schmerztherapeutin auf die Idee, dass sich hinter der selbstbewussten, erfolgsorientierten Fassade eine depressive Frau verstecken könnte. Sie verschrieb ihr ein Antidepressivum. Dieses wirkte. Andrea war plötzlich schmerzfrei und konnte auch wieder schlafen. Als die Ärztin ihr klar machte, dass Medikamente nur das Symptom, aber nicht die Ursachen behandeln können, entschloss sich Andrea zu einer Psychotherapie. Nach über zwei Jahren Ärztehopping und ununterbrochenen Schmerzen ist sie nun weitgehend schmerzfrei.
Wenn Depressive zu spät Hilfe bekommen, kann das also an den »blinden Flecken« der Mediziner liegen, aber es spielt auch eine Rolle, dass die Betroffenen selbst oft nicht wissen, was mit ihnen los ist. Sie sind zutiefst verunsichert und können sich die Veränderungen, die sie erleben, nicht erklären. | 73 |
Dass der Zustand der Verwirrung oftmals so lange andauert, liegt sicher auch daran, dass sich die Depressionsforschung bislang wenig dafür interessiert hat, was in den Betroffenen selbst vorgeht und welche persönlichen Theorien sie über ihren seelischen Zustand haben. So ist wenig bekannt darüber, was depressive Frauen selbst über das denken, was mit ihnen passiert. Sie wurden selten explizit danach gefragt und noch seltener haben sie sich selbst zu Wort gemeldet. Natürlich, es wurde und wird viel geforscht zum Thema »Frauen und Depression«, aber erstaunlich gering war bislang das Interesse an den eigenen Erklärungen von Frauen für ihr Erleben. Zwei Ausnahmen stammen von der amerikanischen Wissenschaftlerin Rita Schreiber und den finnischen Forschern Irmeli Laitinen und Elizabeth Ettorre. Sie führten mit betroffenen Frauen verschiedenen Alters ausführliche Interviews. Diese Frauen hatten allesamt eine Depression durchgemacht – und überstanden. Wie sie ihre Depression erlebten und was sie als die Ursachen dafür betrachten, schilderten sie den Wissenschaftlern in ausführlichen
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