Wer bin ich ohne dich
Niedergeschlagenheit.
In einer aktuellen Langzeitstudie, der sogenannten Aida-Studie (»Adaption in der Adoleszenz«), die Renate Valtin mit 3 000 Jugendlichen durchgeführt hat, konnte sie erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern feststellen: »Mädchen haben ein weniger positives Selbstbild und eine geringere psychische Stabilität: ihre Leistungsängstlichkeit und psychosomatischen Beschwerden sind höher. Auch im Leistungsvertrauen schneiden Mädchen schlechter ab: Sie haben ein niedrigeres Selbstkonzept der Leistungsfähigkeit und eine niedrigere Erfolgszuversicht – | 150 | und dies, obwohl sie in der Schule erfolgreicher sind. Es gelingt ihnen nicht, aus ihren besseren Zensuren und Schulabschlüssen Kapital zu schlagen.«
Jungen, so das Fazit der Wissenschaftlerin, sind »das bevorzugte Geschlecht«. Jungen haben »eben weil sie männlich sind, von vornherein einen Vorsprung in ihrem Selbstwert und ihrem Leistungsvertrauen – selbst bei schwachen Schulleistungen können sie sich Frauen überlegen fühlen. Jungen gelingt es besser als Mädchen, die schulischen Misserfolge von sich fernzuhalten. Sie haben weniger Leistungsängste und verarbeiten Misserfolge selbstwertdienlicher, das heißt sie führen sie nicht auf eigenes Unvermögen zurück, wie Mädchen das tun, sondern auf mangelnde Anstrengung.«
Valtin weist darauf hin, dass der Schule bei der Entstehung dieser Geschlechterunterschiede eine unrühmliche Rolle zukommt. Der »heimliche Lehrplan« sorgt dafür, dass »Jungen mehr Aufmerksamkeit bekommen. Sie werden häufiger aufgerufen, gelobt, aber auch getadelt«. Werden sie gelobt, dann für ihre Fähigkeiten, Mädchen dagegen bekommen Aufmerksamkeit, wenn sie sich brav und angepasst verhalten. Der heimliche Lehrplan sorgt auch dafür, dass Jungen vor allem für Unordentlichkeit und Disziplinlosigkeit kritisiert werden. Mädchen dagegen für schlechte Leistungen. Schreiben Jungs gute Noten, wird das von Eltern wie von Lehrkräften auf ihr Können zurückgeführt, bei Mädchen dagegen wird ihr Fleiß gelobt.
Die Auswirkungen für das Selbstbild sind fatal und prägen das Leben auch später: Mädchen wie Frauen führen ihre Erfolge auf Glück oder Zufall zurück, Männer dagegen auf ihre besonderen Talente. Der spezifische weibliche Attributionsstil, der von manchen Wissenschaftlern als eine Ursache der Depression angeführt wird, ist also in erster Linie erlernt und nicht auf die weibliche Natur zurückzuführen. | 151 |
Was bisher galt, gilt nun nicht mehr
Was passiert hier? Warum verschlechtert sich die Situation des weiblichen Geschlechts in der Pubertät so dramatisch? An der Schwelle zum Erwachsenwerden müssen Mädchen erkennen, dass ihre besonderen Fähigkeiten oftmals nicht als Stärke und als Vorteil betrachtet werden. Sie fühlen sich nicht ermutigt, diese Fähigkeiten bewusst einzusetzen, denn sie erleben immer wieder, dass sie damit eher »anecken«. Ihre Beziehungsfähigkeit hat keinen Stellenwert in einer Gesellschaft, die Härte, Durchsetzungsfähigkeit, Egoismus verlangt, und in der das unabhängige, autonome Individuum als Norm gilt. Junge Frauen geraten daher häufig in einen existenziellen Konflikt. Sie spüren, dass alles, was sie bisher für richtig gehalten haben und was ihnen durchaus Bestätigung eingebracht und Halt gegeben hat, auf einmal nicht mehr so viel zählt. Nun sollen sie plötzlich Eigenschaften zeigen, die kaum gefördert und unterstützt wurden und die sie – anders als das männliche Geschlecht – nicht entwickeln und erproben konnten. Ihr bisheriges »Selbst in Beziehung« soll sich nun in ein »autonomes Selbst« verwandeln. Das erschüttert ihr Identitätsgefühl heftig.
Der Psychoanalytiker Erik Erikson verstand unter Identität ein Gefühl, das sich aus der Beobachtung von »Gleichheit und Kontinuität in der Zeit« bei sich selbst und anderen ergibt. Für Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein ist die Gleichheit und Kontinuität nicht mehr gegeben. Was bisher galt, gilt nun nicht mehr. In der Pubertät verlieren junge Mädchen etwas, das der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky als eine wichtige Voraussetzung für seelische und körperliche Gesundheit bezeichnet: das Kohärenzgefühl. Dieses ergibt sich, wenn ein Mensch das Gefühl hat, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, wenn er genügend Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforde | 152 | rungen zu begegnen und wenn er überzeugt ist, dass es sich lohnt, sich diesen
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