Wer bin ich ohne dich
Verhalten beleuchteten, unterzogen Shelley und ihre Kollegen Studien der vergangenen 30 Jahre einer erneuten Analyse und stellten fest: Weibliche Wesen (das umfasst Menschen und Tiere) reagieren auf Stress zum Teil vollkommen anders als männliche. In gefährlichen oder angespannten Situationen ist nicht das Flüchten-oder-Kämpfen-Muster zu erkennen, sondern ein Verhalten, das Taylor als »tend and befriend« bezeichnet. Fühlen sie sich angegriffen oder befinden sich in gefährlichen, stressigen Situationen, gilt der erste instinktive Gedanke von Frauen nicht der Flucht oder dem Kampf. Geraten sie unter Druck, kümmern sie sich intensiv um ihren Nachwuchs (das ist der »tend«-Anteil), und sie suchen Bindung und Nähe zu anderen Mitgliedern ihrer Gruppe (der »befriend«-Anteil). So konnte beispielsweise eine Studie zeigen, dass sich Frauen nach einem stressigen Tag ganz besonders intensiv mit ihren Kindern beschäftigen. Ein Verhaltensmuster, das auch in Experimenten mit Ratten beobachtet werden konnte: Rattenmütter, die kurzzeitig von ihrem Nachwuchs getrennt worden waren, stürzten sich bei ihrer Rückkehr ins Nest mit besonderer Fürsorge auf ihn.
Weder bei männlichen Tieren noch beim Menschenmann konnte diese »tend-and-befriend«-Strategie beobachtet werden. Geraten männliche Wesen unter Stress, kämpfen oder flüchten sie. So sind beispielsweise emotionale Bindungen zwischen Männern eher eine Seltenheit. Sie verfügen in der Regel nicht über ein stabiles soziales Netz von Freunden, von dem sie im seelischen Notfall aufgefangen werden können. Frauen beherrschen natürlich auch die männlichen Antistressstrategien, allerdings kommen sie bei ihnen seltener zum Einsatz und erst dann, wenn die »tend and befriend«-Strategie nicht mehr ausreicht.
Ein eindrucksvolles Beispiel für die unterschiedlichen Stressreaktionen der Geschlechter zeigt der packende Film Melancho | 146 | lia des Regisseurs Lars von Trier (der selbst an Depression leidet, wie übrigens auch seine Hauptdarstellerin Kirsten Dunst). Vordergründig geht es in diesem Film um den Weltuntergang: Der Planet Melancholia stürzt auf die Erde, es gibt keine Hoffnung mehr für die Menschen. Aber das eigentliche Hauptthema des Films sind zwei Schwestern: die schwer depressive Justine und die tüchtige, patente Claire. Der Film beginnt mit der Hochzeit von Justine, deren junge Ehe aber bereits am Hochzeitstag endet. Im Laufe des Festes versinkt sie immer tiefer in ihre Depression und erkennt, dass das Leben an der Seite ihres Mannes sie nicht aus ihrer Verzweiflung erretten wird. Er versteht sie gar nicht, er kann sich nicht einfühlen in ihre Nöte und reagiert zunehmend irritiert (wie es auch im realen Leben vielen Männern geht, wenn sie mit der depressiven Erkrankung ihrer Partnerin konfrontiert sind). Claire dagegen scheint glücklich mit John verheiratet zu sein, mit dem sie einen Sohn hat. John reagiert auf den herannahenden Planeten mit Wissenschaftsgläubigkeit und Optimismus und kann zunächst Frau und Sohn in seiner Begeisterung mitreißen. Sie glauben, Melancholia wird an der Erde vorbeifliegen, und sie freuen sich auf ein faszinierendes Schauspiel. Justine aber erkennt die nahende Katastrophe – und akzeptiert sie. Auch dies ist eine typische Eigenschaft depressiver Menschen: Sie neigen nicht dazu, sich selbst etwas vorzumachen. Vielmehr besitzen sie einen klaren Realitätssinn, der es ihnen unmöglich macht, sich mit einer rosaroten Brille das Leben zu verschönern. Als klar ist, dass Melancholia die Erde zerstören wird, ergreift John die Flucht. Er begeht Suizid und lässt seine Familie allein zurück. Auch Claire versucht mit ihrem Kind wegzulaufen, sieht jedoch schnell die Aussichtslosigkeit dieses Plans ein. Sie kehrt zur Schwester zurück, und die beiden Frauen bereiten sich auf das Ende vor. Justine baut einen Wigwam, eine Zauberhütte, in der ihnen – so erzählt sie es ihrem Neffen, um | 147 | ihn zu beruhigen – nichts passieren kann. Am Ende sitzen sie alle drei unter einem stilisierten Wigman, halten sich bei den Händen und erleben ihr Ende, das Ende der Welt, gemeinsam und in der Not vereint.
Die Männer in diesem Film sind alle »Flüchtende«. Der frisch gebackende Ehemann von Justine sucht ziemlich schnell das Weite, weil er sich vor ihrer Depression fürchtet und sich nicht damit auseinandersetzen will. Ihr Vater, dessen Zuwendung und Aufmerksamkeit sie während des Hochzeitsfestes gewinnen will, verdrückt sich
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