Wer bin ich ohne dich
Entwicklungspsychologe Sindney J. Blatt, »wenn der Junge versucht, seine Abgrenzung von der Mutter zu stärken und abzustützen. Deshalb versuchen wohl einige Männer immer noch, bewusst oder unbewusst, die Geschlechtsrollenstereotype in der Gesellschaft zu bestärken, indem sie Frauen abwerten.« Was aber bedeutet diese frühe Trennung der Söhne von den Müttern?
Alle Menschen fürchten den Verlust von engen Bindungen. Alle reagieren auf diesen Verlust mit Trauer. So auch kleine Jun | 157 | gen, die schon sehr früh die schützende Nähe der Mutter verlassen müssen. Das Autorenduo Betcher und Pollack spricht von einer »traumatischen Erfahrung des Verlassenwerdens«, die unbewusst alle Beziehungen von Männern ein Leben lang überschatten kann.
Für Söhne hat die frühe Trennungserfahrung Folgen: Ohne eine enge emotionale Bindung an die Mutter fühlen sie sich alleingelassen. Doch weil die Gesellschaft von ihnen Härte erwartet und sie sich schämen, wenn sie diese Härte nicht aufbringen können, wagen sie nicht zu zeigen, wie es wirklich in ihnen aussieht. Gegen ihre Ängste und Unsicherheiten gibt es kein Mittel. Sie können nichts dagegen tun, und vor allem kennen sie keine Alternative. Sie schämen sich, wenn sich Bindungswünsche melden. Ihre Trauer und ihren Schmerz über den Verlust an Bindung dürfen sie nicht zeigen: Schwach sein gilt nicht, ein Indianer kennt keinen Schmerz. Also verstecken sie ihre wahren Gefühle, erst vor anderen, dann schließlich auch vor sich selbst. Und sie entwickeln Strategien, um mit der frühen Trennung von der Mutter zurecht zu kommen: Sie errichten Schutzmauern.
Um ihren Mann zu stehen und sich die Sehnsucht nach Verbundenheit und Beziehung nicht anmerken zu lassen, bauen Männer »höhere und dickere Mauern als Mädchen, um ein Gefühl der Eigenheit und Andersheit zu garantieren«, so Betcher und Pollack. »Männer sind ständig bemüht, die Deiche zu stopfen, um nicht vom Meer der Weiblichkeit überschwemmt zu werden.« Schon als Jungen schweigen sie, wenn ihnen etwas nahe geht, oder sie spielen den coolen Cowboy oder den witzigen Clown. Erwachsene Männer gehen in den Rückzug, verschanzen sich hinter ihrer Zeitung, verbringen Stunden vor ihrem Computer, treiben exzessiv Sport oder versuchen, durch Scherze und zynische Bemerkungen eigene und fremde Gefühle auf Distanz zu halten. Ihre emotionalen Bedürfnisse verstecken sie wahl | 158 | weise hinter Gleichgültigkeit, Aggression, Ärger oder Wut und geschäftiger Betriebsamkeit. Statt ihrer Partnerin offen zu sagen, dass sie Ärger im Betrieb hatten, dass sie in einer Sinnkrise stecken, dass sie Angst vor dem Älterwerden haben oder für ein Problem keine Lösung finden, kritisieren sie ihre Partnerin wegen Kleinigkeiten (»Immer kommst du zu spät!«, »Auf dich ist kein Verlass«, »Mach doch mal mehr Ordnung«) oder verwahren sich aggressiv gegen Fragen, die ihnen zu nahe treten (»Was denkst du?«, »Warum bist du so still?«, »Kann ich mal mit dir über uns sprechen?«).
Jungen lernen, dass es cool ist, unabhängig und distanziert zu sein. Bullying, Wettbewerb, Auftrumpfen, das sind die Strategien, die Jungs erwerben, um Beziehungen nicht zu eng werden zu lassen. Das aber ist eine Entwicklung, deren Schattenseiten immer deutlicher werden. Kommen die Söhne in die Pubertät, ist zwar ihr Selbstbewusstsein deutlich stärker als das der Mädchen, auch das Draufgängertum und Dominanzverhalten unter Gleichaltrigen nehmen zu. Aber gleichzeitig tauchen vermehrt schulische und Verhaltensprobleme auf. Oftmals kommt es zu Drogen- und Alkoholkonsum. »Die Probleme von Jungen werden in vielen Bereichen des Schulsystems deutlich und beginnen bereits bei der Einschulung«, schreibt der Pädagoge Ulf Preuss-Lausitz. »Mehr Jungen als Mädchen werden zurückgestellt, weil ihre kognitive und soziale Entwicklung nicht als schulreif eingeschätzt wird; Jungen im Vorschulalter haben häufiger Entwicklungsverzögerungen, chronische Krankheiten, fein- und grobmotorische sowie sprachliche Beeinträchtigungen. Durch die Zurückstellung werden diese Mängel nicht überwunden. Im Laufe der Schulzeit bleiben 30 bis 50 Prozent mehr Jungen als Mädchen sitzen, besonders ausgeprägt in den Sekundarschulen. Es landen doppelt so viele Jungen wie Mädchen in Sonderschulen und kommen von dort kaum wieder zurück in Regelschulen. Sie erreichen | 159 | meist keinen Schulabschluss. Die Sonderschülerquote der Jungen war bereits höher, als
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