Wer bin ich ohne dich
sich von der Vorstellung, gut sein zu müssen. »Nein« ist auch das Wort der Wahl, wenn es zu viele Stressquellen im Leben einer Frau gibt und sie versucht, allem und allen gerecht zu werden. Das Bemühen, perfekt zu sein, alles allein schaffen zu müssen, ist Nahrung für die Depression. Auch Marilyn Monroe war eine Perfektionistin, die glaubte, durch Anstrengung und Leistung ihre Dämonen austreiben zu können: »Mehr anstrengen und tun, muss Disziplin aufbringen für Folgendes – | 216 | zum Unterricht gehen – eigenen immer – ohne Ausnahme – möglichst oft Strasbergs andere Kurse besuchen – nicht die Stunden im Actors Studio versäumen – Augen offen halten – beobachten – nicht nur mich, sondern auch andere und alles.«
Sie wird egoistischer. Egoismus ist nicht per se etwas Schlechtes, sondern eine wichtige Voraussetzung für seelische Gesundheit. Eine Frau, die Empowerment besitzt, wird in einem guten Sinne egoistischer, das heißt, sie entwickelt Selbstmitgefühl für sich. Für andere da sein und für sie sorgen ist eine wunderbare weibliche Fähigkeit. Nutzt eine Frau diese Fähigkeit auch für sich selbst, ist ein gesundes Gleichgewicht geschaffen. Sie versucht nicht mehr, so zu sein, wie man es von ihr erwartet (oder sie es von sich selbst erwartet), sondern sie legt ihre überzogenen Erwartungen, eine perfekte Frau, eine perfekte Mutter, eine perfekte Tochter sein zu müssen ab und wagt es, sich so zu zeigen, wie sie ist.
Sie dreht den Ton lauter. Das bedeutet: Sie sagt, was sie denkt und was sie will. Sie sorgt dafür, dass ihre Bedürfnisse wahrgenommen und ihre Meinung gehört wird. Durch ihre Stimme positioniert sie sich in der Welt. Hat eine Frau die Botschaft der Depression verstanden, sagt sie nicht mehr ständig »Ich sollte«, »Ich müsste«, »Ich bin schuld«, »Ich bin nicht gut genug«. Stattdessen formuliert sie Sätze, die mit »Ich will«, »Ich denke«, »Ich möchte nicht« beginnen und sorgt dafür, dass sie gehört werden. Die Kluft zwischen dem Ideal, das eine Frau glaubt erfüllen zu müssen, und dem wahren Selbst ist dann nicht mehr so groß – und parallel mit der Verringerung dieser Kluft steigt das Selbstwertgefühl.
Sie bekennt sich zu ihrem »Selbst in Beziehung«. Empowerment bedeutet vor allem, dass sich eine Frau bewusst wird, wie wichtig | 217 | Beziehungen für sie sind, und dass dieses Bedürfnis nach Bezogenheit nichts mit kindlicher, unreifer Abhängigkeit oder Bedürftigkeit zu tun hat. Die amerikanische Psychologin Susan Nolen-Hoeksema spricht von einer starken »sozialen Identität«, die Frauen besitzen. »Die Identität von Frauen setzt sich nicht nur aus individuellen Charakterzügen oder Talenten und Interessen zusammen, auch ihre Beziehungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Diese Neigung, sich selbst durch Beziehungen zu definieren und nicht nur durch Leistung, ist eine Quelle der Stärke für Frauen.«
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Empowerment bedeutet also, dass Frauen es nicht negativ bewerten, wenn sie sich nach Innigkeit, nach Gesprächen, nach Heimat sehnen. Das weibliche »Selbst in Beziehung« ist in keiner Weise dem »autonomen Selbst« der Männer unterlegen oder gar minderwertig. Allerdings kann die soziale Identität zum Fallstrick für Frauen werden, wenn sie zu sehr im Mittelpunkt steht und es neben dieser sozialen Bezogenheit keine eigenständige, individuelle Identität mehr gibt. »Frauen verlieren sich dann im wahrsten Sinn des Wortes in ihrer Identität als Frau, Mutter oder Tochter«, sagt Nolen-Hoeksema. Sie müssen dann die Frage »Wer bin ich ohne dich?« mit einem beängstigenden »Nichts« beantworten. Aus dieser krankmachenden Verstrickung können sie sich nur befreien, wenn sie »ihre soziale Identität nähren, ohne sich selbst in den Schatten zu stellen«, wie Nolen-Hoeksema es beschreibt.
Diese Herausforderung können sie beispielsweise bewältigen, indem sie sich nicht nur auf einige wenige Menschen oder einige wenige Aufgaben konzentrieren. Eine Frau sollte möglichst viele Rollen in ihrem Leben ausfüllen. Denn wer verschiedene soziale Rollen, verschiedene soziale Kontakte und verschiedene Eigenschaften in sich vereinen kann, besitzt eine wichtige psychische | 218 | Ressource: Selbstkomplexität. Die Psychologin Patricia W. Linville wies bereits Mitte der 1980er Jahre darauf hin, dass »Selbstkomplexität« einen Menschen vor affektiven Schwankungen und vor Stressbelastungen schützen kann. Ist es einer Frau möglich, sich als
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