Wer bin ich ohne dich
stellen und sie bewältigen, sind starke Frauen. »Eigentlich war die Depression gut für mich. Ich fühle mich stärker, stimmiger als vorher«, meint eine ehemals depressive Frau. Wie sie erkennen viele Betroffene erst durch ihre Erkrankung ihre Stärken. Sie wissen nun, dass sie ganz besondere Eigenschaften und Talente besitzen, die ihnen, richtig eingesetzt, helfen können, das Leben nach ihren Vorstellungen zu meistern. Der zentrale Schlüssel zu dieser Bewusstseinsveränderung liegt in der Erkenntnis, welche die amerikanische Journalistin Allison Pearson, die selbst an Depression erkrankt war, so formulierte: »Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass es absolut in Ordnung ist, wenn wir nicht die besten Mädchen sind, die es gibt.«
Wie Erfahrungen von ehemals depressiven Frauen zeigen, ist der Weg durch die Depression immer mit einem Wandlungsprozess verbunden. Wenn eine Frau in der Lage ist, die Krankheit als das zu erkennen, was sie ist – nämlich als ein Signal dafür, dass sie Wichtiges in ihrem Leben ändern muss, um sich nicht selbst zu verlieren –, vollzieht sich in ihr eine Revolution. Sie hat dann mit der Frau, die sie vor der Krankheit war, nicht mehr viel gemein. Sie ist eine andere geworden und wird sich möglicherweise | 214 | in dieser Erfahrung einer ehemals depressiven Frau wiederfinden: »Der Schleier hat sich gelüftet, und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich Macht habe und Kontrolle über mein Leben. Ich lasse es nicht mehr zu, dass irgendjemand mir vorschreibt, wie ich mein Leben zu leben habe, was ich denken und fühlen soll. Ich achte mehr auf meine Bedürfnisse und sorge für mich besser als früher.«
In einer depressiven Frau kommt es in der Tat zu einer gewaltigen Veränderung, wenn sie nicht nur mit dem Verstand, sondern vor allem mit dem Herzen begreift, dass sie aufhören kann und muss, Unmögliches möglich zu machen oder für andere Menschen immer nur angenehm zu sein. Der Weg durch die Krankheit ist für die Betroffenen ein Wachstumsprozess, in dessen Verlauf sie ihre Fähigkeiten und Stärken (neu) entdecken oder bislang Verborgenes zum Leben erwecken. Am Ende einer bewussten und mutigen Auseinandersetzung mit der Depression herrscht Klarheit: So bin ich ich! So will ich sein! Aber auch: So bin ich nicht! So will ich nicht sein!
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Lee Strasberg, Gründer des berühmten New Yorker Actors Studio und Schauspiellehrer von Marilyn Monroe, meinte einmal zu ihr: »Es tut mir leid für dich, dass du so viel aus der Angst heraus tust, du musst anfangen, aus der Kraft heraus zu agieren.« Bekanntlich fand Marilyn Monroe nicht den Zugang zu ihrer Kraft, sie scheiterte an ihren Selbstzweifeln. Eine Frau muss bereit sein, den schwierigen, oft schmerzhaften Weg durch die Depression zu gehen. Nur so kann sie ihre eigene Kraft für sich selbst nutzen. Sie erwirbt dann etwas, das in den Sozialwissenschaften »Empowerment« genannt wird und soviel heißt wie »Selbstbefähigung« oder auch »Stärkung von Autonomie und Eigenmacht«. Eine Frau, die Empowerment besitzt, ist der Überzeugung, Kontrolle | 215 | über ihr Leben zu haben. Sie weiß, dass sie Einfluss nehmen kann und darf – auf das eigene Leben ebenso wie auf andere Menschen. Empowerment verhilft einer Frau zu der grundlegenden Überzeugung, dass sie so sein darf, wie sie ist, ohne ständig Angst haben zu müssen, dass andere sie fallen lassen.
Wenn eine Frau am Ende eines Depressionsprozesses Empowerment entwickelt hat, merkt sie das in verschiedenen Bereichen:
Sie setzt sich zur Wehr. Eine Frau, die Eigenmacht besitzt, weiß, dass es nur kurzfristig gut ist, Ärger hinunterzuschlucken, anderen bedingungslos zur Verfügung zu stehen und für sich selbst möglichst wenig zu verlangen. Gegen alltägliche Zumutungen und Übergriffe ebenso wie gegen Gewalttätigkeiten aller Art gibt es nur ein Wort: Nein! Marilyn Monroe hat dieses Nein nicht gewagt, wie sie selbst schrieb: »Ich bin rastlos und nervös – eben habe ich fast einen Silberteller geworfen – in eine dunkle Ecke vom Set – aber ich wusste, ich darf nichts ’rauslassen, was ich wirklich empfinde, das wage ich nicht, weil ich dabei vielleicht nicht haltmachen würde.« Diese Angst kennen fast alle depressiven Frauen: Sie ahnen, dass ihre unterdrückte Wut möglicherweise zu einem zerstörerischen Ausbruch werden könnte. Ein Nein, das in einer konkreten Situation geäußert wird, hat nicht dieses destruktive Potenzial.
Sie verabschiedet
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