Wer bin ich ohne dich
manchmal abhängig und bedürftig, dann aber wieder stark und selbstständig zu fühlen, weiß sie, dass sie nicht nur Ehefrau und Mutter, sondern auch Freundin und Tante, Kollegin und Sportlerin ist, dann besitzt sie ein vielfältiges Bild von sich. Je mehr Facetten dieses Bild hat, desto größer ist der Schutz vor Depression. So konnte beispielsweise eine Langzeitstudie belegen, dass sich die Depressionswerte von Hausfrauen und Müttern verringerten, wenn sie berufstätig wurden: Je mehr Stunden sie außer Haus arbeiteten, desto stabiler war ihre psychische Verfassung. Diese positiven Auswirkungen der Berufstätigkeit lassen sich auch bei Müttern von Vorschulkindern beobachten. Umgekehrt berichteten Frauen, die ihre Berufstätigkeit reduzierten, über eine Zunahme an depressiven Verstimmungen.
Warum führen mehrere Rollen nicht automatisch nur zur Überlastung, sondern können im Gegenteil eine seelische Entlastung sein? Besitzt eine Frau mehrere Rollen, ist sie geschützt, wenn es in einem Bereich mal nicht so gut läuft. Misserfolge, Ärger und Stress können besser verkraftet werden, wenn man sich aus einem anderen Lebensbereich Kraft und Mut holen kann. Ein gutes Familienleben wirkt als Puffer gegen beruflichen Stress – und umgekehrt: Frauen bewältigen häuslichen Ärger und Sorgen besser, wenn sie sich im Beruf als erfolgreich und kompetent erleben. Ihr Selbstwertgefühl wird gestärkt, sie erfahren Lob und Anerkennung – was sich wiederum positiv auf ihre Zufriedenheit mit dem Familienleben auswirkt. Hinzu kommt: Zufriedene berufstätige Frauen hängen die unvermeidlichen familiären Krisen und Ärgernisse nicht so hoch. Geht zu Hause mal etwas schief, hat dies für sie keine so große Bedeutung wie für ihre nicht be | 219 | rufstätigen oder im Beruf unzufriedenen Geschlechtsgenossinnen. Multiple Rollen erleichtern es einer Frau, sich selbst auch außerhalb von Beziehungen als wertvoll und vollständig zu erleben: Der Gedanke »Das bin ich ohne dich!« stabilisiert sie.
Viele Rollen zu haben bedeutet auch, ein hohes Maß an sozialer Unterstützung zu genießen. Vor allem verheiratete berufstätige Mütter ziehen viel Kraft aus persönlichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen. Männer sind weniger auf gute persönliche Kontakte am Arbeitsplatz angewiesen. Für sie ist die soziale Unterstützung durch die Partnerin wichtig. Fehlt diese, wirkt sich das negativ auf ihre berufliche Zufriedenheit aus.
Die Erkenntnis, dass multiple Rollen für Frauen ein Schutz gegen Depressionen sein können, ist von großer Bedeutung, wenn man über die besonderen Stressbelastungen des weiblichen Geschlechts spricht. Es sind nicht die verschiedenen Rollen, die Frauen unter Druck setzen, sondern der Stress der Frauen ergibt sich in erster Linie aus einer Überbetonung ihrer sozialen Identität. Die im Kapitel »Stroh zu Gold spinnen – Der Stress der Frauen« genannten Stressfaktoren – chronische Überlastung, verheiratet sein, Mutterschaft, Beziehungsarbeit, Pflege oder Gewalterfahrungen – haben vor allem deshalb auf Dauer so verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen, weil sie ihre Beziehungsfähigkeit und Beziehungsorientierung nutzen (um nicht zu sagen: ausbeuten), ohne dass sie einen Ausgleich dafür bekämen. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Dies ist nicht der Fall, wenn eine Frau ein facettenreiches Selbst besitzt, das nicht allein von Beziehungen, vor allem nicht von der einzig wichtigen Beziehung zum Partner, abhängig ist. Hat sie zusätzliche Kraftquellen, die ihr Vertrauen in die eigene Kompetenz fördern, kann sie den Stressoren in ihrem Leben mehr Widerstand leisten und ist vor allem den unvermeidlichen Beziehungsenttäuschungen nicht schutzlos ausgeliefert. | 220 |
Die Königin im Märchen, die angesichts der Bedrohung nicht hilflos und passiv in scheinbar auswegloser Lage verharrt, sondern sich auf ihre Kompetenzen besinnt, ist hier ein Vorbild: Sie aktiviert ihre Kreativität (sie überlegt sich Namen), sie handelt (indem sie einen Boten ausschickt), sie geht schonend mit sich selbst um (sie macht sich keine Vorwürfe oder grübelt über ihr Schicksal), sie sucht keine Hilfe und keinen Trost bei König oder Vater (also nicht in der männlichen Welt). Aus der anfangs nur reagierenden hilflosen, weinenden Müllerstochter ist eine aktive, handelnde Frau geworden, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt.
Auch wenn eine betroffene Frau den Depressionsprozess für sich zu einem
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