Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
Stelle zu stehen, um auf ihn zu warten.
Wenige Minuten später konnte sie sich
– befreit von der drückenden Last des Geldes – wieder auf den Heimweg machen, der zum größten Teil über einen lehmigen, verlassenen Waldpfad führte. In Scarheim wollte sie noch einige Lebensmittel einkaufen und eine Salbe für Katharinas Bein vom Doktor abholen.
Der Doktor von Scarheim war ein freundlicher, alter Herr, der nicht viel redete. Sie musste für ihn nicht sonderlich viel Zeit einplanen, denn er gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die langwierige Schwätzchen liebten. Immerhin – und das war eine absolute Ausnahme – erkundigte er sich heute nach Herrn Adlam. „Ich wollte ihn noch einmal sehen, wegen seiner Verletzung. Aber er hat sich nicht mehr hier gemeldet“, beklagte er sich. Kein Wort über die schlimmen Gerüchte, die über Robert Adlam in Umlauf waren und keine in irgendeiner Weise böse Bemerkung. Der Doktor schien zu den ganz wenigen Menschen zu gehören, die sich nicht von dem Gerede der Leute beeinflussen ließen. Der Gemüsehändler jedenfalls übersah Josefine seit einigen Tagen sehr gerne, wenn sie ihre Bestellung machen wollte und nahm andere Leute zuerst dran, die nach ihr gekommen waren.
„Ich glaube, es geht ihm wieder ganz gut“, beruhigte Josefine den Arzt. „Deshalb hat er bestimmt entschieden, dass er nicht mehr zum Doktor muss.“
Ob es ihm wirklich so gut ging, wie Josefine behauptete, war eigentlich eher fraglich. Aber wozu noch mehr Gerede in die Welt setzen, wenn die Gerüchteküche sowieso schon überquoll?
„Es sah böse aus, was er da hatte“, meinte der Doktor überlegend, während er die verlangte Salbe aus irgendeinem mit Medikamenten vollgepacktem Regal hervor kramte. „Die Wunde hätte eigentlich einer Nachbehandlung bedurft.“
Josefine wusste daraufhin nichts zu erwidern. Sie selbst hatte die Verletzung vor einigen Tagen, als diese noch frisch gewesen war, kurz gesehen und es war nicht gerade spaßig gewesen. Auch sie hatte sich eine Menge Sorgen um Robert Adlam gemacht, doch was sollte sie tun? Schließlich konnte sie ihren Chef ja nicht gewaltsam zum Doktor befördern!
„Ich werd‘ ihm sagen, dass Sie sich sorgen“, meinte sie schließlich. „Aber meist hört er nicht auf mich.“
Der Doktor reichte ihr das verlangte Medikament und sie bezahlte es bei ihm. Bei der Verabschiedung meinte er
plötzlich zu Josefine, ohne dass sie danach gefragt hätte. „Ich als Arzt würde sagen, dass es keine Sturzverletzung war.“
Er sah ihr dabei ernst in die Augen, so, als würde diese Nachricht sie persönlich betreffen. „Einen Unfall würde ich fast ausschließen. – Geben Sie auf sich Acht, Josefine.“
Mit diesen Worten schloss er die Tür seiner Praxis vor Josefines Nase. Verdattert starrte sie das Türblatt an, wo eben noch das Gesicht des Doktors gewesen war: Jetzt hatte er sich doch wider Erwarten zu den Vorgängen ihren Chef betreffend geäußert. Aber was hatte er mit seiner Warnung gemeint? – Befürchtete er, dass jemand Herrn Adlam bedrohte und sie dadurch ebenfalls in Gefahr geriet? Oder hatte er sie gemahnt, sich vor ihrem Chef selbst zu hüten?
Wie dem auch sei: Sie war fest entschlossen, zu Herrn Adlam zu stehen, solange alle Bösartigkeiten über ihn nur Gerüchte waren. Er hatte schließlich auch sie immer gut behandelt und sich vor allem aus ihrem Privatleben heraus gehalten. Der Ruf, ein recht loses Weibsbild zu sein, der ihr anhaftete, hätte in den meisten anderen Haushalten auf den direkten Weg zu einer Kündigung geführt. Doch für Herrn Adlam war dies nicht einmal im Entferntesten ein Thema gewesen.
Deshalb hatte sie auch den Vorfall an der Haustür, als der Bauer Rothans bei ihnen aufgetaucht war, versucht, aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Obwohl dies nicht so einfach war. In Robert Adlams Gegenwart fühlte sie sich seitdem – ohne es zu wollen – immer ein wenig unwohl. Sie wandte sich von dem Haus des Doktors ab und schlug den Weg zum Dorfanger ein, wo zweimal in der Woche ein kleiner Markt stattfand. In Gedanken versunken wanderte sie durch die Dorfstraßen, die wie immer recht verlassen dalagen. Ein einziges Pferdefuhrwerk überholte sie auf ihrem Gang, und nur vereinzelte Fußgänger kamen ihr entgegen.
Die laute Stimme eines jungen Mannes riss sie aus ihren Gedanken: „He, Josefine!“
Sie blickte auf und sah zwei junge Knechte des Bauern Rothans einige Meter entfernt vor sich auf der Straße stehen. „Bist du nicht
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