Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
meinem zweiten Besuch.“
„Die beiden sind eines Nachts mit Sack und Pack fortgegangen. Der Polizist hat mir gesagt, das Hausmädchen hätte sie gesehen, wie sie aufgebrochen sind. Vielleicht haben die Männer sich alle verabredet und sind zusammen in die neue Welt gegangen, um ihr Glück zu versuchen. Das klingt jedenfalls wahrscheinlicher, als dass irgendein Irrer sie in einer Art Wahn allesamt ermordet hat.“
„Sie wären dann jedenfalls nicht die einzigen, die plötzlich den Entschluss fassen, nach Amerika zu gehen“, meinte Anna. „Teresa Neuenberg ist mit ihrer Familie gerade letzte Woche fortgegangen...“
„Richtig“, bestätigte Diane und drehte sich wieder um, um aus dem Fenster zu sehen. Bei dem herrlichen Sonnenschein bot es sich wirklich an, noch einmal einen Ritt nach Scarheim zu unternehmen und ihr neues Pferd endlich abzuholen. Doch zwei Dinge hielten sie davon ab: Erstens war ihr Vater vor etwa einer Stunde von seiner Reise heimgekommen und deshalb würde es sich äußerst schwierig gestalten, sich für einen ganzen Tag aus dem Haus zu mogeln. Zweitens war Tante Agnes äußerst wütend über ihr heimliches Verschwinden und Diane wollte es sich nicht endgültig mit ihr verderben – damit die Tante bloß nicht zu ihrem Vater lief und ihm vom Fehlverhalten der Tochter berichtete. Drittens hatte Robert sie inständig gebeten, in nächster Zeit nicht mehr herzukommen und das Pferd - falls ihr noch daran gelegen war - von einem Dienstboten abholen zu lassen.
Natürlich war ihr noch an diesem schönen Tier gelegen. Allerdings musste sie erst einmal ihrem Vater beichten, dass sie sich in seiner Abwesenheit diesen wunderschönen fuchsigen Wallach ausgesucht hatte und dass ihr ein Teil der Kaufsumme noch fehlte, um ihn ganz zu bezahlen.
Was ihren Vater anging, naja, vielleicht sollte sie ihm - genau wie sie es gerade mit Anna getan hatte – selbst die Wahrheit erzählen über das, was vorgefallen war. Weil es ihm ja sowieso schon bald zu Ohren kommen würde.
Ohje, das würde ein hartes Stück Arbeit werden!
Unten in der Straße brach plötzlich ein kleines Chaos aus: Eine Kutsche war mit dem Hinterrad gegen einen Laternenpfahl geknallt und es hatte einen derartigen Ruck gegeben, dass sämtliche auf dem Kutschendach gestapelten Koffer auf den Boden landeten.
Anna hörte den Lärm und stand sogleich neben ihrer Schwester am Fenster, um zu sehen, was los war. Der Kutscher sprang von seinem Bock und begann eilig, das Gepäck wieder aufzusammeln. Eine feine Dame kam aus dem Inneren der Kutsche hervor und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn. Den Kutscher beschimpfend blieb sie inmitten der Koffer stehen und gestikulierte wild mit der freien Hand.
Ein kleiner, schmutziger Junge ergriff die Gelegenheit, schnappte sich unter den Augen der feinen Dame eine
Tasche und rannte, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, fort.
„ Ein Dieb! Ein Dieb! “ schrie die Dame hysterisch. Und gleich darauf fauchte sie den Kutscher an: „ Nun tun Sie doch endlich etwas! “
Der Kutscher hatte den Diebstahl nicht gesehen, er war damit beschäftigt gewesen, einen besonders schweren Koffer wieder auf das Kutschendach zu hieven. Er blieb bei dem ganzen Theater erstaunlich ruhig und schien sich für den Dieb überhaupt nicht zu interessieren.
Ein junger Mann in einem eleganten Anzug mit kurzem, blondem Haar ging an der verunglückten Kutsche vorbei, ohne die hysterische Dame eines Blickes zu würdigen. Er steuerte geradewegs auf die Haustür der Familie von Roder zu.
„Oh, Besuch“, sagte Anna. „Kennst du den Mann?“
„Ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen“, meinte Diane und beobachtete ihn, wie er die Glocke an der Haustür betätigte. Es klingelte. „Er wird wohl irgendeiner von diesen grausam langweiligen, hoch angesehenen Menschen sein, die einem hier tagtäglich über den Weg laufen.“
„Es muss kurz vor Mittag sein“, stellte Anna fest. „Vater hat gar nicht gesagt, dass er jemanden zum Essen erwartet. Und das auch noch direkt nach einer so langen Reise, wonach er sich doch sonst immer ausruhen will.“
Der fremde junge Mann wurde hereingelassen, er verschwand von der Straße. Unten im Haus erklang die Stimme ihres Vaters.
„Vielleicht geht er ja gleich wieder“, meinte Diane und richtete ihr Augenmerk wieder auf die kreischende Dame mit ihrer Kutsche.
Auch Anna beobachtete die Szene neben Diane stehend weiter, schien aber dabei recht unruhig. Nach einiger Zeit sagt
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