Wer Blut vergießt
noch nicht gesehen?«
»Nein. Nein, ich glaube nicht. Wir haben getrennte Schlafzimmer, wissen Sie. Vincent sagt, er hält es nicht aus, wie ich mich ständig hin und her wälze.«
»Und gestern Abend? Ist Ihr Mann gestern Abend ausgegangen?«
»Er ist zu Fuß ins Pub gegangen. Wie fast immer am Freitagabend. Ich mache mir da nichts draus.«
»Wissen Sie, um wie viel Uhr Ihr Mann nach Hause gekommen ist?«
»Nun ja, genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Ich gehe früh zu Bett. Stehe immer mit den Hühnern auf, wissen Sie?« Mrs Arnott lächelte sie unsicher an. »Worum geht es denn eigentlich? Ich bin sicher, dass Vincent Ihnen helfen kann, wenn er nach Hause kommt.«
Gemma fing wieder Melodys Blick auf. »Mrs Arnott, können wir uns irgendwo hinsetzen?«
»Nun ja, ich denke, wir können in die Küche gehen.« Sie machte kehrt und führte die Besucherinnen durch den cremefarbenen Flur, vorbei an einem Esszimmer mit hellbrauner Stofftapete und weiter in eine sehr gut ausgestattete Küche, die in den gleichen Creme- und Brauntönen gehalten war. Die dezente Einrichtung hatte den Effekt, den Blick auf die großen Fenster in der rückwärtigen Wand zu lenken. Sie gingen auf einen Garten hinaus, der selbst in seinem jetzigen Zustand der Winterruhe so wild und verwunschen wirkte, wie der Vorgarten streng war. Dies, so vermutete Gemma, war Mrs Arnotts Reich.
»Ich wollte gerade rausgehen, um die Rosen zu schneiden«, sagte Mrs Arnott mit einem Blick auf ihren unkonventionellen Aufzug. »Ich dachte, vielleicht kommt ja die Sonne ein bisschen heraus.«
»Setzen wir uns doch.« Melody fasste den Ellbogen der Frau und führte sie zu einem der Stühle in der Frühstücksecke. Dann zog sie ihr Handy hervor und zeigte Mrs Arnott das Foto, das sie von Vincent Arnotts Führerschein gemacht hatte. Gemma wusste, dass Melody ebenso wie sie selbst auf dem Weg durchs Haus nach Familienfotos Ausschau gehalten hatte, die ihnen die Identifizierung erleichtern würden, aber sie hatten keines entdecken können. »Ist das Ihr Mann?«, fragte Melody.
Mrs Arnotts Augen weiteten sich. »Natürlich ist er das. Aber wie – wie kommen Sie an seinen Führerschein? Hat jemand ihn gestohlen?«
Gemma holte tief Luft. Zügig und mit fester Stimme, so war es am besten. »Es tut mir sehr leid, Mrs Arnott«, sagte sie, »aber Ihr Mann ist tot.«
Nach einem schnellen Mittagsimbiss beschloss Kincaid, mit dem Wagen nach Bethnal Green zu fahren. Im Gegensatz zu den Jungs war für Charlotte eine Fahrt mit dem Astra ein echter Höhepunkt. Der alte grüne Kombi war im vergangenen Herbst ein – zumindest in Kincaids Augen – willkommenes Geschenk von seinen Eltern gewesen. Aber in einem Viertel, wo die meisten Familien einen neuen Landrover schon als Abstieg betrachteten, fand Kit ihn einfach nur peinlich. Und Toby, der anfangs ganz begeistert war, ahmte neuerdings Kits Gemecker nach.
»Treffen wir auch die Hunde?«, fragte Charlotte zum zehnten Mal.
Kincaid drehte sich zur Rückbank um, wo sie in ihrem Kindersitz festgeschnallt saß. »Ich kann nichts versprechen, Schatz. Vielleicht sind sie ja gerade nicht da.«
»Wir wollen aber Jazzer und Henny sehen«, protestierte Charlotte und zog die Stirn in Falten. Jazzer und Henny waren ihre Namen für Jagger und Ginger, die zwei Deutschen Schäferhunde, die Louise Phillips’ Nachbarn Michael und Tam gehörten.
»Und Miss Louise«, half Kincaid nach.
»Ja«, sagte Charlotte. Als er sich noch einmal umsah, hatte sie ihr Gesicht in Bobs weichem Kopf vergraben.
Louise war nicht nur als Anwältin die Partnerin von Charlottes Vater gewesen, sie war nunmehr auch die Nachlassverwalterin ihrer Eltern.
Als sie Louises Wohnung in der Nähe des Blumenmarkts an der Columbia Road erreichten, hatte der morgendliche Nieselregen aufgehört, und Kincaid überlegte, ob er mit Charlotte nach dem Besuch in den nahe gelegenen Laden gehen könnte, wo es ihre Lieblings-Cupcakes gab.
»Schau mal«, rief Charlotte glücklich, als Kincaid sie aus ihrem Sitz befreite, »da sind Jazzer und Henny.«
Tatsächlich, die beiden Hunde beobachteten sie von dem Balkon im ersten Stock aus, den Louise sich mit ihren Nachbarn teilte. Sie begrüßten den Besuch mit wildem Gebell.
»Na, ihr seid ja wirklich tolle Wachhunde«, meinte Kincaid lachend, als er mit Charlotte die Außentreppe zum Balkon hinaufging. Die Hunde warfen sich jetzt gegen das Tor und wedelten begeistert mit den Schwänzen.
Michael trat aus der linken Wohnung auf
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