Wer Blut vergießt
Adoption von Kindern gemischter Herkunft durch weiße Familien zuzustimmen. Wir sollten uns den Trend zunutze machen – wer weiß, wie lange er anhält. Und« – Louise schüttelte den Kopf und schien auf ihrem Stuhl zusammenzusacken – »wer weiß, wie lange ich noch da bin.«
Plötzlich fügte sich alles in Kincaids Kopf zu einem Bild zusammen: Michaels Warnung, Louises offensichtliche Erschöpfung und die Tatsache, dass er sie noch nie so lange ohne eine Zigarette hatte auskommen sehen. Sofort läuteten bei ihm alle Alarmglocken. »Louise, wovon redest du? Was ist passiert?«
Sie seufzte. »Wenn ich es dir nicht sage, wirst du es von Michael oder Tam erfahren. Ich habe einen Schatten auf der Lunge.«
Gemma wusste nie so recht, was schlimmer war bei Menschen, die einen plötzlichen Verlust erlitten hatten – unkontrollierte Weinkrämpfe oder das erstarrte Schweigen des Schocks. Bei einem hysterischen Anfall hatte man wenigstens noch das Gefühl, irgendetwas tun zu können – tröstende Worte, eine beruhigende Geste. Aber bei denen, die wie paralysiert waren … Sie schüttelte den Kopf, während sie in das ausdruckslose Gesicht von Vincent Arnotts Frau blickte.
»Mrs Arnott, gibt es jemanden, den Sie anrufen können, damit Sie nicht allein sind?«
Die Frau starrte nur vor sich hin; offenbar hatte sie Gemmas Frage gar nicht verstanden.
»Mrs Arnott?«
Mrs Arnott erschauderte leicht, und da war wieder dieses eigenartige Blinzeln, das Gemma vorher schon aufgefallen war. »Ich verstehe nicht. Vincent wird bald nach Hause kommen.«
»Na schön«, sagte Gemma. Sie fing Melodys Blick auf und schüttelte unauffällig den Kopf, ehe sie sich wieder Mrs Arnott zuwandte. »Lassen Sie uns doch erst mal einen Tee machen, ja? Und dann können wir uns ein bisschen unterhalten.«
Melody stand mit ihr auf, und sie zogen sich zusammen in den Arbeitsbereich der Küche zurück. »Ich werde herauszufinden versuchen, ob es irgendwelche Verwandten gibt, und wenn ja, mir die Nummer geben lassen«, sagte Gemma leise. »Du rufst inzwischen auf dem Revier an und meldest, dass wir das Opfer eindeutig identifiziert haben. Und sie sollen so schnell wie möglich jemanden vom Opferschutz herschicken.« Sie dachte einen Moment nach. Es gab sowohl männliche als auch weibliche Opferschutzbeamte, die regelmäßig mit ihrem Team zusammenarbeiteten, aber in diesem Fall fand sie, dass eine Frau definitiv die bessere Wahl wäre. »Frag mal, ob wir Marie Daeley kriegen können.«
Während Melody sich entschuldigte, das Handy bereits am Ohr, füllte Gemma den Wasserkocher und fand nach kurzer Suche Teebeutel und Becher, Milch und Zucker. An der Edelstahltür des Kühlschranks war mit einem Magneten ein Einkaufszettel befestigt. Die Handschrift sah männlich aus, doch am Rand waren in einem nahezu unleserlichen Gekritzel ein paar Ergänzungen notiert worden. Gemma glaubte das eine Wort als »Vögel« entziffern zu können, ein weiteres als »Stiefel«. Merkwürdige Artikel für einen Einkaufszettel.
Die Teebeutel waren von Tetley’s – die ganz normale englische Mischung. Als Gemma das kochende Wasser in die Becher goss, verfärbte sich die Flüssigkeit sofort orange und strömte einen beruhigenden Duft aus. Nachdem der Tee gezogen hatte, trug sie die drei Becher mit der Milch und dem Zucker zum Tisch und nahm gegenüber von Mrs Arnott Platz.
Sie selbst konnte gesüßten Tee nicht ausstehen, doch in Mrs Arnotts Becher gab sie Milch und mehrere Löffel Zucker. »Der wird Sie ein wenig beleben«, sagte sie, indem sie den Becher über den Tisch schob. Als Mrs Arnott keine Anstalten machte, danach zu greifen, beugte Gemma sich vor und hob ihre schlaffe Hand vom Tisch auf. Sie war eiskalt, und Gemma rieb sie ein wenig zwischen ihren Händen, ehe sie sie um die warme Tasse legte. »Kommen Sie, trinken Sie einen Schluck«, ermunterte sie die Frau mit sanftem Nachdruck, worauf Mrs Arnott den Becher langsam in beide Hände nahm und an die Lippen führte.
»So ist’s besser«, sagte Gemma. »Haben Sie Kinder, Mrs Arnott?«
Es schien die Frau einige Anstrengung zu kosten, sich auf Gemmas Gesicht zu konzentrieren. »Nein.« Ein kaum vernehmliches Flüstern. »Nein«, wiederholte sie mit festerer Stimme. »Wir wollten welche, aber …«
»Haben Sie Geschwister?«
»Meine Schwester, Sara. Sie lebt in Florida.« Ihre Stimme klang jetzt etwas lebhafter – als ob sie stolz darauf wäre und es schon oft erzählt hätte.
Gemma jedoch musste sich
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