Wer Boeses saet
hielt ihn François hin. Mit zittriger Hand riss er ihn auf. Darinnen steckte ein dreifach gefaltetes Blatt.
Mein kleiner Papa,
wenn du diesen Brief liest, dann bist du wahrscheinlich kurz vorm Ziel angelangt. Oma glaubt, dass ich dich brauche. Sie irrt sich. Du brauchst mich. Weil du verstehen willst. Ich bin sicher, du weißt, wo du mich finden wirst. Dort, wo Himmel, Wasser und Erde eins sind.
64
Ein vergrabenes Bild.
Das Bild vom reinen Glück.
Es brachte ihn in eine längst vergangene Zeit zurück, eine Zeit der Fülle und der einfachen Freuden, in der alles noch möglich schien.
François hatte diese Erinnerungen in die hintersten Winkel seines Unbewussten verbannt. Jetzt kam alles wieder hoch. Das Haus, die Seen, die Wälder. Er erinnerte sich an die Momente, in denen er auf dem flechtenüberwachsenen Bootssteg saß und zusah, wie das Wasser seine Farbe wechselte. Diane legte ihren Kopf an seine Schulter, Charlotte klatschte in die Hände, während das Grün der Seerosen nach und nach in Schwarz überging. Ein Blätterdach über ihren Köpfen schirmte sie vom Rest der Welt ab. Der Augenblick war sehr kurz. Nur ein paar Minuten. Und in diesem kurzen Moment dazwischen hatte die Dämmerung der ganzen Natur ein und dasselbe Kleid angelegt.
»Dort, wo Himmel, Wasser und Erde eins sind«, hatte Charlotte geschrieben. Ein Ort, den es wirklich gab, der aber auch eine symbolische Bedeutung hatte, denn er stellte auf poetische Weise die Familie dar, die sie einmal gewesen waren.
Dann hatte der Schmerz alles hinweggefegt. Dianes Ermordung und deren Auswirkungen auf Charlotte, sein eigenes Umherirren. Die Irrfahrten des Kriegers hatten acht Jahre gedauert. Acht lange Jahre, in denen er diesen Hafen des Friedens nicht mehr betreten hatte. Er erinnerte ihn zu sehr an das, was er verloren hatte. Was sein Stolz zerstört hatte. Der ehemalige Psychoanalytiker war nun ein Bulle geworden, weil er sich davon die Absolution erhoffte.
Jetzt präsentierte das Leben ihm die Rechnung.
Er fuhr von der A 71 auf das Autobahnkreuz Lamotte-Beuvron und dann auf die D 923. Die Nadel des Tachos war am Anschlag, das Blaulicht lief auf vollen Touren, er brauchte keine zwei Stunden, um die Strecke bis in Frankreichs Mitte zurückzulegen. Keine Musik, das Handy war ausgeschaltet, damit man ihn nicht lokalisieren konnte. François konzentrierte sich nur noch aufs Fahren.
Eine lange, gerade Linie, beginnender Nebel. Er konnte kaum etwas erkennen. Die wenigen Autos, die einsam durch diese Wüste fuhren, flüchteten schnell zur Seite, wenn der Kommissar sie wie ein Irrer mit seiner Lichthupe bedrängte. Er war eine Gefahr für die Öffentlichkeit, krank vor Schmerz schoss er wie eine Kanonenkugel durch die kohlschwarze Nacht.
In diesem Tempo legte er fünfzig Kilometer zurück und konnte ein paar Autos, die aus der Gegenrichtung kamen, gerade noch ausweichen. Die Fahrt durch Lamotte-Beuvron zwang ihn, langsam zu fahren. Ein Stück anachronistisch anmutende Bundesstraße, dann wieder die Landstraße in Richtung Vouzon. François fuhr nach dem Gedächtnis. Er hatte die Strecke schon hundertmal zurückgelegt, kannte sie auswendig.
Misabran, Souvigny, La Gimonière. Ein Kaff folgte dem anderen, alle tot, auf künstliche Weise von der Straße abgeschnitten. Manchmal erhellte eine einsame Straßenlaterne ein Haus, eine Kirche, einen Laden. Sie schienen auf wie im Blitzlicht und ließen andere Bilder wieder lebendig werden. François sah sich am Steuer seines Autos sitzen, wie er mit seiner Frau und seiner Tochter gemächlich durch diese Gegend fuhr, in der sich nichts verändert hatte. Je tiefer er in diese Landschaft eintauchte, desto mehr Erinnerungen kehrten zurück. Die Einsamkeit, die Isolation, die Reinheit dieser vor Wasser und Saft strotzenden Erde. Der Friede eines zeitlosen Ortes, geschützt vor dem Wahnsinn der Menschen.
Plötzlich tauchte mitten aus dem Nichts eine Nebenstraße auf. Auf dem Schild stand lediglich: »Die schwarzen Sümpfe«. Das war der Name eines mehrere Hektar großen Gebietes, das zu drei Vierteln aus Wald bestand, eine schöne Naturlandschaft mit einem riesigen See darin.
Das Familienanwesen.
Im Herzen der Sologne.
Der Ort, an dem seine Tochter sich mit ihm verabredet hatte.
Charlotte hatte es nach Dianes Tod geerbt. Sie hatte sich mit aller Verzweiflung an diesen Fleck geklammert, als sei es die letzte Rettungsboje, die sie vor dem Untergang bewahren würde. François hatte es nicht übers Herz gebracht,
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