Wer Boeses saet
legte ihrem Sohn die Hand auf den Oberschenkel und fügte mit teilnahmsvoller Stimme hinzu:
»Du bist … oder sagen wir besser, du warst so zerbrechlich, mein armer Schatz. Deine Reaktion hätte Charlotte nur noch mehr geschadet.«
Damit war alles gesagt. François hatte soeben begriffen, wie seine Mutter ihn wahrnahm. Sie sah einen Menschen in ihm, auf den man nicht oder nicht mehr zählen konnte. Einen Mann, dessen Schmerz alles überdeckte, der zu labil war, um sich um seine eigene Tochter zu kümmern. Auf ihre Art hatte Charlotte ihm das auch zu verstehen gegeben.
»Das ist Wahnsinn …«, murmelte er schließlich.
»Vielleicht. Aber die Fakten haben mir recht gegeben«, erwiderte Gabrielle selbstsicher. »Sie ist einen Monat in dieser Klinik geblieben, hat sich wieder aufgerappelt, und dann habt ihr euch wiedergefunden, als sei nichts geschehen.«
»Und jetzt? Hältst du mich mittlerweile für fähig, Verantwortung für meine Tochter zu übernehmen?«
Er war sehr heftig geworden. Da sie ihm seine Elternrolle genommen hatte, war er nun nicht mehr bereit, die Rolle des respektvollen Sohnes zu spielen.
»Keine Ahnung. Aber du hast es ja selbst schon gesagt: Du bist der Vater, sie braucht dich. Sie ist wie eine Schlafwandlerin. Sie läuft übers Seil, und du bist der Einzige, der sie daran hindern kann, wieder herunterzufallen.«
Seine Gefühle spielten verrückt. Wut, Schmerz, Schuldgefühle. Und stärker noch als alles andere war die Angst.
Was seine Mutter gerade erzählt hatte, passte wie eine Pauspapierzeichnung auf seine jüngsten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu den Treibern war Charlotte auch so eine verzweifelte Jugendliche. Wie alle Opfer in dieser düsteren Geschichte. Vielleicht lag darin die letzte Erklärung. Die Einzige, die, entgegen dem äußeren Schein, einen Sinn ergab. Diese Deutung wies der Profiler vehement von sich. Doch sie meldete sich immer wieder zu Wort und wollte nicht verstummen.
Hier musste er nachforschen.
»In welche Klinik hast du sie bringen lassen?«
»Möchtest du jetzt auch hier eine kleine Ermittlung durchführen?«
»Ich muss die Diagnose kennen.«
Gabrielle lächelte.
»Immer dieses Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu haben … Hör endlich auf, dich wie ein Psychoanalytiker aufzuführen. Sei einfach nur ein Vater.«
Touché. Schon wieder. Er ging darüber hinweg und beharrte stur auf seiner Position.
»Antworte mir.«
»In die Seeklinik in Garches. In die Abteilung von Dr. Giraud.«
Justine, das Opfer von Bagnolet, war dort gewesen. Und das Datum passte auch. François hatte herausfinden wollen, wo und wie Natascha ihr begegnet sein könnte. Jetzt wusste er es, und die Antwort brachte ihn schier um.
Mit letzten Kräften versuchte er, sich mit logischen Überlegungen vor dem Abgrund zu schützen, der ihn in die Tiefe ziehen wollte.
»Das ist unmöglich. Giraud ist ein Freund. Er hätte mir davon erzählt.«
»Er hatte keinerlei Grund dazu.«
»Warum? Hast du ihn auch manipuliert?
Eine gewisse Traurigkeit verschleierte Gabrielles Blick.
»Ich habe niemanden manipuliert. Ich habe nur meine Familie beschützt.«
»Wie hast du das angestellt?«
»Auf die einfachste Art der Welt. Viele Ausländer kommen hierher, um sich in dieser Privatklinik behandeln zu lassen. Hier wird nicht so sehr nach den Personalien gefragt, solange man die Rechnung bezahlen kann. Die im Übrigen gesalzen ist.«
»Hast du einen falschen Namen angegeben?«
»In Anbetracht deines früheren Berufes hielt ich es für sicherer, die Sache geheim zu halten.«
François fürchtete sich vor der nächsten Enthüllung. Mit tonloser Stimme stellte er die Frage:
»Wie hast du sie genannt?«
»Ich habe ihr einen russischen Namen gegeben. Viele wohlhabende Familien dort sprechen Französisch, und Charlotte ist ein bisschen der Typ. Natascha Sbirkoja. Das haben sie anstandslos geschluckt.«
Er hätte am liebsten laut losgebrüllt. Er krallte seine Nägel in die Armlehne, um den Schrei zurückzuhalten.
Er stand auf. Der Raum schwankte wie ein trunkenes Schiff.
»Ich fahre hin.«
Gabrielle stand ebenfalls auf.
»Bist du mir böse?«
Er hatte nicht mehr die Kraft zu sprechen, sich so zu verstellen, dass sie nichts merkte.
Er küsste sie auf die Stirn.
»Nein.«
Die alte Dame lächelte schüchtern. Diese Lüge nahm sie ihm nicht ab.
»Übrigens, Charlotte hat mir das für dich gegeben. Für den Fall, dass du wieder auftauchen solltest.«
Sie holte einen Umschlag aus der Tasche und
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