Wer Boeses saet
Abgrund, der sie trennt.
François hob die Hände und wollte auf Charlotte zugehen.
»Beruhig dich doch, wir werden …«
»Bleib, wo du bist!«
Er erstarrte.
»Einverstanden. Siehst du? … Ich rühr mich nicht mehr.«
Die Sekunden verstrichen. Sie standen einander gegenüber, schweigend wie zu einem letzten Gebet. François spürte, dass sie zögerte. Er machte noch einen letzten Versuch:
»Gar nicht so einfach, was?«
»Was denn?«
»Das Abdrücken.«
»Ich will diesen Moment auskosten.«
Sie log. Er kannte sie gut genug.
»Ich verstehe dich nicht. Wenn du mich nur töten wolltest, wieso hast du dann all diese Leute umgebracht? Es hätte doch genügt, mich hierherzulocken, damit wäre schon alles erledigt gewesen.«
Ein Unbehagen wie bei einem Kind, das man bei etwas ertappt hat.
»Mit den Plänen ist’s wie mit dem Leben. Sie entwickeln sich weiter.«
François nahm den Faden auf.
»Das hast du nicht vorgehabt. Du wolltest mich nur erniedrigen, wolltest mir knallhart zeigen, wo meine Grenzen sind. Deinen Vater zu töten stand nicht auf dem Programm.«
Charlottes Lippen fingen an zu zittern.
»Dich seelisch fertigzumachen, das schien mir die allerbeste Rache. Zu sehen, wie du zweifelst, wie du dich in die Sache verstrickst, wie deine Gewissheiten zunichtegemacht werden. Das fühlte sich richtig gut an.«
»Du konntest dir nicht vorstellen, dass ein Staubkörnchen deine schöne Mechanik versagen lassen würde. Ohne Maximes Vater und seinen Hang zu Frischfleisch wäre ich dir nie auf die Schliche gekommen.«
Sie zuckte die Schultern und spannte den Hahn.
»Sagen wir’s mal so: Die Dinge laufen nicht immer so, wie wir uns das vorstellen.«
Sie zum Reden bringen. Den Kontakt nicht verlieren.
»Was hat dich veranlasst, deine Meinung zu ändern? In welchem Augenblick hast du beschlossen, dass wir beide sterben sollten?«
»Wozu ist das wichtig? Nur das Ergebnis zählt, oder etwa nicht?«
»Charlotte! Du bist meine Tochter und willst mich erschießen. Das allein ist schon ziemlich verrückt, oder etwa nicht? Du schuldest mir zumindest die Wahrheit.«
Jetzt zeigte sich ein anderer Ausdruck in ihren Augen. Sie schien in einem samtenen Traum verloren.
»Als Maxime mich anrief, da wusste ich, dass wir das Spiel verloren haben. Der Grund war eigentlich egal. Du würdest dich auch hier aus der Affäre ziehen, und das konnte ich nicht hinnehmen.«
»Du antwortest nicht auf meine Frage.«
»Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Ich habe mich mit den anderen in Verbindung gesetzt. Sie hatten die totale Panik. Jeden Augenblick konnten sie gefasst werden und den Bullen verraten, wer ich war. Ich musste sie aus dem Verkehr ziehen, sonst hätte man mich wahrscheinlich festgenommen, und dieses Tête-à-Tête zwischen uns hätte nie stattgefunden.«
»Sie haben dir vertraut, und du hast sie in die Falle gelockt.«
»Jungs sind dumm. Sie glauben alles, was Mädchen ihnen erzählen. Ich musste nur ein paar von deinen Pillen in Whiskey auflösen und ein Kabel aus dem Keller holen. Und dann … Auf diese Weise konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
»Indem du den Mord an deiner Mutter wiederholtest?«
»Ich war mir sicher, dass du die Ironie zu schätzen wissen würdest.«
Die Symbolik. Wieder einmal. Die lebendige Sprache des Unbewussten. Dieser Coup war Charlotte geglückt. Die blauen Lippen, die wächserne Haut und die roten Streifen um den Hals hatten François acht Jahre zurückgeworfen, in den weißen, eiskalten Raum, in dem Dianes Leiche lag.
In das Leichenschauhaus, in dem sein Schicksal besiegelt wurde.
In die Hölle, der er nie entronnen war.
Nur halb bewusst nahm er wahr, wie seine Tochter blinzelte.
Er schloss fast schon erleichtert die Augen.
Der Schuss ging los. Sein Herz explodierte. Trotzdem konnte er noch hören.
Ein Stöhnen. Ein Weinen.
Er blinzelte mehrmals. Bilder der Szene blitzten vor ihm auf. Charlotte lag auf dem Boden, zusammengerollt wie ein Fötus. Ihre zarte Hand presste sie auf die Schulter. Das Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor.
Er stürzte zu ihr.
»Mein Schatz!«
»Papa …«
Die Killerin war verschwunden. Jetzt war da nur noch ein kleines verlorenes Mädchen, an Körper und Seele schwer verletzt.
François vergaß alles und drückte sie an sich. Er sah weder die Gestalt, die näher kam, noch die Waffe, die sie in der Hand hielt.
Er spürte einen Druck auf seine Schulter.
Drehte sich um.
Mit zerzausten Haaren und durchnässtem Anorak
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