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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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mit meiner Kollegin die Ermittlungen im Mordfall Lucie. Sie waren mit dem Opfer befreundet, wenn ich das recht verstanden habe?«
    Der junge Mann nickte und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Schmerz war aufrichtig, aber er gab ihm auf eine etwas theatralische Weise Ausdruck. Es wirkte alles etwas überzogen, gerade so, als halte er sich für eine Diva.
    François holte ihn wieder auf die Erde zurück.
    »Können Sie sich fünf Minuten von der Arbeit entfernen? Wir würden uns gerne ein bisschen mit Ihnen unterhalten.«
    Sie setzten sich nach draußen auf die Terrasse eines Cafés auf der anderen Seite des Platzes. Dort saßen die Leute in der Mittagssonne beim Essen. Über ihren Köpfen spendeten Heizpilze eine elektrische Wärme. Nachdem sie etwas zu trinken bestellt hatten, ging Marchand zum Angriff über:
    »Treffen Sie sich schon seit Langem mit Lucie?«
    »Seit sie in dem Salon arbeitet. Das dürften jetzt sechs Monate sein.«
    »Erzählen Sie uns ein bisschen von ihr.«
    »Ein Goldstück. Nett, großzügig … Man musste sie nur zu nehmen wissen.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie hatte Charakter. Und dem gab sie auch Ausdruck, ohne sich groß um was zu scheren. Aber wir beide haben uns gut verstanden.«
    Er blinzelte, als versuche er, die Tränen zurückzuhalten. Dann fügte er mit einem dünnen Stimmchen hinzu:
    »Warum sie? Ich verstehe das nicht!«
    Für eine Erläuterung blieb ihnen keine Zeit. François fuhr fort:
    »Hat sie sich Ihnen anvertraut?«
    »Ein bisschen schon.«
    »Was hat sie Ihnen erzählt?«
    »Von ihrem Leben, ihren Problemen: na ja, Persönliches eben …«
    »Versuchen Sie, etwas konkreter zu werden. Hatte sie beispielsweise Freunde?«
    »Nicht dass ich wüsste. Wir arbeiten zwölf Stunden am Tag. Da hat man nicht mehr so viel Zeit für den Rest.«
    »Hatte sie vielleicht einen Freund?«
    »Glaub ich nicht.«
    »Glauben Sie das nicht oder sind Sie sich sicher?«
    Er tat so, als versuche er, sich zu erinnern.
    »Ich bin mir sicher. Das hätte sie mir erzählt.«
    François dachte noch einmal über die Informationen nach, während die bestellten Getränke gebracht wurden. Keine feste Beziehung, kein Freundeskreis: In puncto Sozialkontakte herrschte Ebbe, da schien es nur Stephen zu geben. Diese Einsamkeit war in dem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung. Eine isolierte Beute ist viel verletzlicher.
    Da kam ihm ein Gedanke, den er sogleich als Frage formulierte.
    »Unverheiratet, keine Freunde. Man kann nicht gerade behaupten, Lucie wäre besonders gesellig gewesen. Aber sie war siebzehn Jahre alt und eher hübsch. Sie ist doch bestimmt ab und zu ausgegangen. Zum Tanzen vielleicht?«
    »Nicht wirklich. Ich hab ein- oder zweimal versucht, sie in eine Disco mitzunehmen. Das ging voll in die Hose.«
    Unglaublich … Sie hatten es mit einer Einsiedlerin zu tun, einer arbeitswütigen jungen Frau, die ihr Leben zwischen ihrem Zuhause und dem Friseursalon aufteilte. Da beide im gleichen Viertel lagen, noch dazu in einer Fußgängerzone, konnte François sich nur schwer vorstellen, dass der Mörder sie mitten auf der Straße entführt haben sollte. Aber wie hatte er es angestellt?
    Er goss sich eine Tasse Tee ein und hatte dabei das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Julia hatte ihren Kaffee schon getrunken. Sie übernahm die Gesprächsführung.
    »Surfte sie im Internet?«
    Stille. Gerade so, als habe die Frage den Friseur eiskalt erwischt. Es folgte eine etwas halbherzige Antwort.
    »Ich nehm’s mal an. Das machen doch alle.«
    Sie hakte nach:
    »Irgendwelche Chatrooms, besondere Websites? Wenn man nicht viel Zeit hat, ist das doch eine ganz gute Methode, um Bekanntschaften zu schließen.«
    »Keine Ahnung …«
    Marchand war erstaunt.
    »Hat sie nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«
    »Nein.«
    »Ich dachte, Sie wären ihr Vertrauter gewesen.«
    Diesmal war es ihm spürbar peinlich. Der Friseur antwortete mit kurzer Verzögerung:
    »Sie hat mir nicht alles erzählt. Ich habe das respektiert.«
    François warf Julia einen Blick zu. Die junge Frau zog die Brauen hoch. Sie glaubte ebenfalls kein Wort von dem, was er da erzählte.
    François hakte nach:
    »Stephen – ich weiß, dass Sie Lucies guten Ruf nicht beschädigen und die Geheimnisse hüten wollen, die sie Ihnen anvertraut hat. Aber Ihre Freundin ist tot. Sie wurde von einem Verrückten ermordet, der ihre Gliedmaßen zerstückelt und ihr das Gesicht weggeschnitten hat. Alles, was Sie uns über sie erzählen können, ist außerordentlich

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