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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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geradezu körperlos, konnte man seine Chancen ins Unendliche steigern, ohne auch nur das geringste Risiko einzugehen. Vor fünf Minuten hatte er das Logo über den Bildschirm huschen sehen. Aber da er dort kein Mitglied war, war er irgendwie auch nicht auf die Idee gekommen, dieser Fährte nachzugehen.
    Trotzdem fragte er erstaunt:
    »Warum Meetic?«
    »Weil das von den meisten genutzt wird.«
    »Nach unseren letzten Erkenntnissen gab es keine Massageangebote auf dieser Seite.«
    »Wer sagt denn, dass sie das offen gemacht hat?«
    Niemand, das stimmte. Als François die Frage gestellt hatte, hatte Stephen nicht gewusst, was er antworten sollte. Diese Schlussfolgerung hatte er ganz allein gezogen. Wahrscheinlich, weil es in seiner Vorstellung die einfachste Art war, seine Dienste anzubieten. Das war wohl eine Frage der Generation …
    Julia erklärte:
    »Für die Anmeldung auf einer Webseite mit Onlinekleinanzeigen müssen immer Angaben zur Person und zur Anschrift gemacht werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diese Daten offenlegte und ihre Angebote ungefiltert online stellte. Sie lebte in einer kleinen Stadt, da hätte sie Angst haben müssen, dass jemand sie erkennt.«
    »Ergo?«
    »Bei Meetic muss man seine Identität nicht sofort preisgeben. Man chattet miteinander, beschnüffelt sich ein bisschen, und dann sieht man weiter. Außerdem reicht eine Mailadresse. Mit anderen Worten: garantierte Anonymität.«
    Er war verblüfft. Julia schien sich in der Sache auszukennen und ganz genau zu wissen, in welche Richtung es ging.
    »Wir brauchen nur noch das Passwort«, sagte sie.
    »Versuchen Sie’s mal mit ›Roxane‹.«
    Erstaunter Blick.
    »Wieso ›Roxane‹?«
    »Das ist der Name ihrer Katze.«
    Sie gab die Buchstaben ein. Eine neue Seite wurde geöffnet.
    »Das fängt ja richtig gut an!«, rief Julia begeistert.
    Marchand hörte nicht mehr hin. Er sah sich die Seite genau an. Sie war überladen mit Bannern, Werbespots, winzigen Fotos, auf denen sich ohne jede Scham Gesichter in Großaufnahme anboten. »Sie sind online «, »Neue Mitglieder«, »Erfahrungsberichte«. Ein einziges Gewimmel liebeshungriger Herzen. Aber auch ein hervorragendes Jagdgebiet für Raubtiere aller Art. Die Eingabemaske ermöglichte es einem, sich hinter einem Pseudonym zu verstecken, sich ein anderes Äußeres, eine andere Persönlichkeit zuzulegen. Mit anderen Worten: das Blaue vom Himmel herunterzulügen.
    Direkt neben einem kostenlosen Horoskop war für Lucie eine kleine Plattform reserviert. Links ein Bild, auf dem sie ihr hübschestes Lächeln präsentierte, gefolgt von ihrem Pseudonym, ihrem Alter und ihrem Departement. Rechts war eine ganze Reihe von Themen aufgelistet.
    Julia hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
    »Was hab ich gesagt … Das war ein abgekartetes Spiel.«
    Ohne mögliche Kommentare abzuwarten, sah sie sich die Annonce an. Eine neue Seite. Wieder dasselbe Durcheinander unterschiedlichster Anzeigen und schmeichelhafter Porträtfotos. In einem rechteckigen Eingabefeld ein kurzer Text: Hallo, ich heiße Nina. Ich bin achtzehn Jahre alt, ziemlich hübsch (sieh dir mein Foto an, dann kannst du sehen, dass ich nicht lüge) und immer noch Single. Außerdem bin ich offenbar unschlagbar gut im Massieren … Ich habe genug von den kleinen Aufschneidern, die nur noch eines im Kopf haben, falls du weißt, was ich meine … Ich würde gerne einen Mann kennenlernen, der älter ist als ich (aber vielleicht nicht gleich zu alt, lol), der mir Sicherheit gibt und bei dem ich Lust bekomme, von der Zukunft zu träumen. Natürlich erwarte ich keinen Märchenprinzen. Nur einen, der es ehrlich meint und bei dem es auch mehr werden kann, falls die Chemie stimmt. Also, zögere nicht, falls du ähnlich drauf bist. Ich freue mich auf Nachricht von dir …
    »Ziemlich gerissen«, sagte Julia lächelnd. »Sie schummelt nicht nur, was ihr Alter angeht, um den Fisch nicht zu verscheuchen, noch dazu wendet sie sich an ältere Männer. Die leichteste Beute …«
    Das war keine auf François gemünzte Anspielung. Dennoch traf ihn diese Bemerkung. Er hatte die symbolische Grenze der Hälfte des Lebens überschritten, und wenn er seine junge Kollegin beim Surfen auf Meetic beobachtete, wurde er sich des Abgrunds bewusst, der sie voneinander trennte. War auch er eine leichte Beute? Seit dem Tod von Diane hatte er sich diese Frage nicht mehr gestellt. Sein Liebesleben tendierte gegen null. Charlotte und seine Suche nach Erlösung waren seine

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