Wer Boeses saet
wichtig.«
François war etwas schroff gewesen. Mit Absicht. Der junge Mann wirkte sichtlich getroffen. Er nahm sich ein Stück Zucker, biss nervös darauf herum und sah sich auf der Terrasse um. Dann gab er schließlich mit leiser Stimme zu:
»Ich hatte ihr gesagt, dass das keine gute Idee ist. Bei all den kranken Typen, die sich da tummeln … Aber sie wollte es ja unbedingt tun. Da war nichts zu machen.«
»Wovon reden Sie?«
Er starrte dem Kommissar ins Gesicht. Seine verängstigten Rehaugen versuchten, darin zu lesen.
»Schwören Sie mir, dass Sie das für sich behalten. Würde mein Chef das erfahren, hätte das bestimmt Konsequenzen für mich.«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen.«
»Wir werden hier sehr schlecht bezahlt. Selbst mit den Trinkgeldern ist es am Monatsende doch eher schwierig. Da versucht eben jeder, so gut er kann über die Runden zu kommen.«
»Und wie machen Sie das?«
»Wir haben alle privat noch Kunden. Mit der Zeit ergibt sich das ganz von allein. Lucie war neu, und sie kannte nicht viele Leute. Sie testete aus, ob man sich vielleicht übers Internet ein paar Extrakröten verdienen könnte.«
»Und das funktionierte?«
»Nicht wirklich.«
»Warum erzählen Sie mir diese Geschichte dann?«
»Weil sie auch was anderes versucht hat.«
»Was denn?«
»Sie bot Körperpflege an.«
»Welche Art von Pflege?«
»Entspannung, Enthaarung, Massagen …«
»Für Männer oder Frauen?«
»Beides.«
»Mit anderen Worten, Sie erzählen mir da gerade, dass sie sich prostituierte?«
Stephen machte eine entsetzte Miene.
»Nein! So weit ging das nicht!«
Der Polizist lächelte. Von der Massage zur schnellen Nummer war es oft nur ein kleiner Schritt. In zwei von drei Fällen war Ersteres nur das Vorspiel zu Letzterem.
Er nahm einen großen Schluck Tee und versuchte nachzudenken. Lucie ging der Sache wahrscheinlich nur gelegentlich nach. Deshalb war sie auch nirgendwo verzeichnet. Außerdem bot sie ihre überaus sinnlichen Dienste übers Netz an. Die Anonymität des Internets hatte dem Täter damit Gelegenheit gegeben, sich seiner Beute völlig unauffällig zu nähern. Jedenfalls war das eine Strategie, die mit der Vorstellung übereinstimmte, die der Profiler sich von ihm machte.
Er stellte seine Tasse ab und fragte weiter.
»Sie hat also ihre Kunden übers Internet gefunden?«
»Ja genau.«
»Wie denn? Mit kleinen Anzeigen?«
»Wahrscheinlich …«
»Wie lange schon?«
Ein Schulterzucken. Seine ungenauen Antworten begannen dem Polizisten auf die Nerven zu gehen. Er schlug einen härteren Ton an.
»Aber das ist doch einfach nicht möglich! Sie haben ihr keine Fragen gestellt?«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Vielleicht aus Neugier.«
»Ich bin doch kein Concierge.«
Stephens Aufrichtigkeit war entwaffnend. François versuchte es nicht länger auf diesem Weg und ließ das Gespräch einfach laufen.
»Wo machte sie das?«
»Zu Hause bei den Kunden. So läuft das in der Regel.«
»Hat sie Ihnen gegenüber irgendwelche Namen erwähnt?«
»Nein.«
»Hat sie mal von irgendwelchen Schwierigkeiten oder einem Problem gesprochen?«
»Nein, ich schwör’s Ihnen. Wenn ich irgendetwas wüsste, würde ich es Ihnen sagen.«
Stephen blickte jetzt drein wie ein getretener Hund. Die Sonne ging allmählich hinter den Häusern unter, die Terrasse leerte sich. Er sah auf seine Uhr.
»Also jetzt muss ich aber wieder zurück.«
Marchand nickte. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Manteltasche und hielt sie dem jungen Mann hin.
»Meine Handynummer. Rufen Sie mich an, falls Ihnen noch irgendetwas einfällt.«
9
Das Appartement des Opfers lag nur fünf Gehminuten entfernt.
Falls Lucie sich ihre Kunden im Internet angelte, standen die Chancen gut, dass ihr Appartement mit einem Computer ausgestattet war. Bei der Überprüfung der Festplatte würden die Polizeibeamten sicher interessante Dinge erfahren.
Das Wohnhaus dürfte aus dem 15. Jahrhundert stammen. Ein kleines Schmuckstück aus Naturstein, renoviert, die Eingangshalle von Sichtbalken durchzogen. Als François die Treppe hinaufstieg, hatte er das Gefühl, einen Sprung in die Vergangenheit zu tun. Alles wirkte kleiner, die Wände waren abgerundet, hier und da lugten Kieselsteine aus dem Verputz, und außerdem roch es charakteristisch – ein Duft von Kreide, Staub und den Träumen jener, die sich zur damaligen Zeit in den Marmorateliers herumgetrieben hatten.
Fünfte und letzte Etage. Unter den Dächern. Eiseskälte und
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