Wer Boeses saet
überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist …«
»Ich lehne eine Hypothese niemals von vornherein ab.«
»Aber Sie bestätigen sie auch nicht.«
»Nein. In Sachen Verbrechen gibt es keine Eindeutigkeit.«
Diesmal ein Seufzer.
»Ersparen Sie mir derlei hohle Floskeln, Kommissar. Dazu sind Sie zu intelligent. Und falls Sie Angst haben, dass ich alles weitertratsche, seien Sie beruhigt: Ich kann Devaux auch nicht ausstehen.«
François blickte sie kurz an. Entschlossen, offen, aufrichtig. Er hatte dasselbe Gefühl wie bei ihrer ersten Begegnung, und er beschloss, ihr zu vertrauen.
»Die Annahme, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben, ist verfrüht. Ein Mord allein reicht dazu nicht aus. Aber ich stimme Ihnen zu. Angesichts der Vorgehensweise gilt es diese Hypothese ins Auge zu fassen.«
»Und das heißt, dass er weitermachen wird?«
»Alles ist möglich. Vielleicht ist er in der Vergangenheit schon aktiv gewesen und blieb unentdeckt. In Frankreich verschwinden jährlich über hundert Personen. Erwachsene ebenso wie Minderjährige. Und man muss auch in Betracht ziehen, dass er anderswo zugeschlagen hat.«
»Ist ja genial …«
»Wir müssen unsere Suche ausweiten. Und das heißt: alle ungelösten Fälle wieder aus den Schubladen kramen, eine Liste der in den letzten drei Jahren in der Gegend vermissten Personen erstellen und Kontakt zu Interpol aufnehmen.«
Julia warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Ist das nicht ein bisschen … übertrieben?«
»Wir können auch abwarten, bis er wieder zuschlägt.«
Sie sackte auf ihrem Sitz in sich zusammen. François’ ein wenig brutale Antwort ärgerte sie ganz offensichtlich. Er legte den ersten Gang ein und fuhr aus dem Parkhaus des gerichtsmedizinischen Instituts. Als er sich in den Verkehr einfädelte, fragte er sich, wie er das wiedergutmachen könnte. Julia war seine einzige Verbündete, und es war besser, wenn er sie nicht gegen sich aufbrachte.
Er beschloss, sie auf Umwegen wieder ins Boot zu holen.
»Sieht so aus, als sei das Ihr erster Mordfall?«
»Das ist Ihnen also nicht entgangen?«
»Anfangs ist es immer ein bisschen …«
»Lassen Sie es gut sein. Ich hätte besser meinen Mund gehalten und dem großen Meister gelauscht.«
Verschlossen wie eine Auster. Eine Person, deren Unverblümtheit dem Kommissar jetzt eher wie ein Schutzpanzer vorkam. Er ließ nicht locker.
»Sind Sie denn schon lange bei der Kripo Avignon tätig?«
Sie sah ihn von unten herauf an, als passe ihr die Frage nicht in den Kram. Dann raunzte sie:
»Was interessiert Sie das?«
»Ich würde gerne wissen, mit wem ich es bei meiner Arbeit zu tun habe.«
Julia entspannte sich ein wenig.
»Zwei Jahre.«
»Das scheint für Sie ja nicht das große Vergnügen zu sein.«
»Hab mich daran gewöhnt.«
»Wo waren Sie vorher?«
»Im Norden.«
»Dann müssen Sie doch froh sein. Die Leute setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um in den Süden versetzt zu werden.«
»Ich bin nicht die Leute. Ich bin in Mons-en-Barœl geboren, einer kleinen Stadt bei Lille. Meine ganze Familie ist dort zu Hause.«
François stimmte ihr zu und nahm widerwillig zur Kenntnis, was er aus den Antworten schloss, die er ihr aus der Nase gezogen hatte. Julia, die so selbstsicher wirkte, war immer noch ein kleines Kind. Ihre Eltern fehlten ihr, und auch ihr ganzer Familienclan. Sie hatte die Erfahrung gemacht, was es heißt, entwurzelt zu werden, wie drei Viertel aller Beamten auf ihren ersten Posten. Die Zusammenarbeit mit Devaux dürfte es ihr nicht leichter gemacht haben, ihr Schicksal anzunehmen.
»Und Sie?«, gab sie zurück. »Wie wird man denn Profiler?«
Jetzt war er dran. Beim ersten Mal hatte er sich geschickt aus der Affäre gezogen, jetzt musste er ein bisschen was von sich preisgeben.
»Dafür gibt es in Frankreich keine eigene Ausbildung. Bei mir sind mehrere Faktoren zusammengekommen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Es ist ein wenig kompliziert. Bevor ich zur Polizei ging, habe ich als Psychoanalytiker gearbeitet.«
»Sie sind Analytiker?«
»Mediziner von der Grundausbildung her. Arzt im Praktikum in der Psychiatrie.«
»Und was ist mit der Operationseinheit zur Bekämpfung von Gewalt gegen Personen? Für so einen Posten sind Sie ziemlich jung.«
»Ich hatte Glück.«
Ein zaghaftes Lächeln.
»Das können Sie jemand anders erzählen. Da war Vitamin B im Spiel, geben Sie es zu.«
»Nein. Nur eine große Motivation.«
Diese Erklärung schien sie nur halb
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