Wer Boeses saet
schlief, als es passierte.«
François mochte es kaum glauben.
»Er war hier, als …«
»Justine passte auf ihn auf. Ich glaube ja nicht an Wunder, aber hier muss ich sagen …«
Sie verschränkte die Finger. An den weißen Fingergelenken konnte man erkennen, dass sie sie mit aller Kraft anspannte.
Dann sprach sie weiter:
»Hugo hat es noch nicht gemerkt. Michel … das heißt, mein Mann, hat ihn sofort zu seiner Mutter nach Marnela-Vallée gebracht.«
Der Mörder hatte den Jungen verschont. Warum? François verschob die Beantwortung dieser Frage auf später.
»Ich würde mich gerne ein bisschen über Julie unterhalten. Meinen Sie, Sie kriegen das hin?«
»Ich … Ich bin mir nicht sicher.«
»Versuchen wir’s. Wenn Sie merken, dass es zu schwierig wird, dann hören wir auf.«
Empathie. Immer. Für François war das nicht unbedingt ein Mittel, das er einsetzte, sondern vielmehr etwas ganz Natürliches. Er schaltete einfach auf dieses Register um.
»Standen Sie Ihrer Tochter sehr nah?«
»Ich glaube schon. Auf jeden Fall so nah, wie das bei einer Jugendlichen überhaupt möglich sein kann.«
Der Profiler blieb neutral. Von Charlotte zu erzählen wäre das Letzte, das er jetzt tun durfte. Auch wenn sie dasselbe Alter hatten, war seine Tochter immerhin noch am Leben.
»Wie ging es Justine?«
Die Frau schien nicht zu begreifen.
»Wie meinen Sie das?«
»War sie vielleicht mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt, hatte sie schwarze Gedanken, legte sie vielleicht irgendein Risikoverhalten an den Tag?«
»Sie fragen mich, ob sie eine Krise hatte?«
»Letztlich schon, ja.«
»Nein. Es ging ihr gut.«
»Sind Sie da sicher?«
Florence Crémant blickte zu Boden und ließ ein paar Sekunden verstreichen, eher sie wieder aufblickte.
»Sie sind ein eigenartiger Polizeibeamter.«
»Warum?«
»Ihre Kollegen haben mir diese Art von Frage nicht gestellt.«
»Meine Arbeitsweise ist ein bisschen anders.«
Wieder Schweigen. Sie schien nachzudenken über das, was sie sagen wollte. Dann sprach sie weiter, ihre Stimme klang angespannt.
»Aus welchem Grund ist die psychische Verfassung meiner Tochter von so ausschlaggebender Bedeutung für Sie? Schließlich ist sie es, die ermordet wurde, oder etwa nicht?«
Vermintes Gelände. Gehen Sie bitte keinen Schritt weiter. Der Profiler wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.
»Ich habe es Ihnen schon gesagt. Meine Methode sieht ein bisschen anders aus.«
»Es fällt mir schwer zu begreifen, wozu dies gut sein soll.«
François sah ihr in die Augen.
»Wollen Sie die Wahrheit wissen?«
»Welche Wahrheit?«
»Die Wahrheit, die mich zwingt, Ihnen diese Fragen zu stellen.«
Die Mutter des Opfers zögerte. Die Situation geriet irgendwie außer Kontrolle, und sie wusste nicht, wie sie zurückrudern sollte.
»Nur zu.«
François legte los. Er erzählte von dem Mord in Roussillon, von dem in Grenoble und dass diese Morde seiner Meinung nach ein zusammenhängendes Ganzes bildeten. Eine Einheit, zu der jetzt auch der Mord an Justine gehörte.
Florence Clément schien aus allen Wolken zu fallen. Niemand hatte sie davon unterrichtet, dass es sich um einen Serienmörder handelte.
Anschließend legte François das Gewicht auf die Persönlichkeit der Opfer. Alles Jugendliche aus wohlhabenden Familien, die nach außen hin keine Probleme machten und keinerlei Probleme hatten.
Ganz wie Justine.
Nur dass er, wenn man ein bisschen nachbohrte, bei diesen jungen Leuten ganz schön viele Verwerfungen gefunden hatte. Die eine prostituierte sich wegen eines abwesenden Vaters, der andere war dabei, einem Glauben abzuschwören, den man ihm aufgenötigt hatte, um sich seiner dunklen Seite zuzuwenden. Folglich war es möglich, dass auch Justine diesem Profil entsprach. Dem Profil einer Jugendlichen, die litt und anderswo nach dem Halt suchte, den ihre Familie ihr nicht geben konnte.
In diesem Fall bei dem Mann, der sie abgeschlachtet hatte.
Die Frau war sprachlos. Die Informationen, mit denen er sie überschüttet hatte, zeigten ihr eine unerwartete Realität. Und die war haarsträubend. Nach einem langen Schweigen akzeptierte sie schließlich das Unvorstellbare.
»Wollten Sie mir damit gerade sagen, dass sie den Mörder kannte?«
»Das ist möglich, ja.«
»Wie hätte sie ihm begegnen sollen?«
»Vielleicht ist sie irgendwohin gegangen, wohin sie nicht hätte gehen dürfen?«
»Aber wohin denn? Sie ging ja abends nie aus dem Haus, und ich hab sie immer von der Schule
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