Wer Boeses saet
der Psychologen schenkte sie schon lange keinen Glauben mehr. Er zog seine Kraft und Empathie aus dem wahren Leben. Er hatte am eigenen Leib erfahren, was es hieß zu leiden, er wusste, was Schmerz bedeutete. Seine Narben machten ihn gewiss zu einem guten Polizisten, aber vor allem gaben sie ihm eine Kraft, die eine Frau glücklich machen konnte. Sofern es ihm gelang, seine Dämonen auf Abstand zu halten …
Sie schob diese Gedanken beiseite und bog in das Gässchen ein.
Sie musste etwas tun. Sport war eine der besten Methoden, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Devaux hatte ihre Eskapade nicht sehr geschätzt. Das hatte er ihr ins Gesicht gebrüllt, bevor er sie losgeschickt hatte, um Lucies Eltern zu befragen. Eine Routineangelegenheit, um die sich niemand gekümmert hatte. Einfach weil sie nicht sehr vielversprechend war. Die Jugendliche lebte seit fast sechs Monaten allein und hatte sämtliche Brücken zum Rest der Familie hinter sich abgebrochen.
Aber der Leiter der Kripo in Avignon war mit den Nerven am Ende. Wie erwartet, hatte die Hausdurchsuchung bei Galthier nichts ergeben. Und die Nachbarschaftsbefragung auch nicht. Und was die Informationen anging, die verschiedene Polizeicomputer ausgespuckt hatten, so führten sie nirgendwohin. Die Polizisten waren immer noch damit beschäftigt, das Viertel zu überwachen, während die Truppen des Cowboys die Gartenabteilungen der Baumärkte und die Fachhändler für medizinisches Material durchkämmten.
Das Ganze war völlig umsonst.
Außerdem ahnte Devaux, dass François in der Sache vorankam. Die Lügenmärchen, die Julia ihm aufgetischt hatte, konnten ihn nicht überzeugen. Und als die Einschüchterungsstrategie nicht funktionierte, schob er Julia aufs Abstellgleis.
Die junge Ermittlerin blieb vor einer Schaufensterauslage stehen. Erst sah sie sich selbst als verschwommene Gestalt in der Scheibe gespiegelt: Jeans, Anorak, Surferbrille und zerzaustes Haar. Dieser androgyne Look passte zu ihr. War das noch ein Beweis, dass sie unfähig war, ihre Frauenrolle richtig auszufüllen?
Ihr Blick fiel durch die Fensterscheibe, und schon fühlte sie sich zu Hause. Im Schaufenster stapelten sich Comics, Plastikfiguren und Karnevalsmasken. Sie liebte diese Phantasiewelt, in der sie all die Helden ihrer Kindheit wiederfand: Han Solo, XIII , Largo Winch, Spiderman … Heldenfiguren für kleine Jungs, für die ihr Vater große Begeisterung bei ihr geweckt hatte. Das war das Einzige, was ihr von ihm geblieben war.
Lächelnd drückte sie die Tür auf. Zur Hölle mit Devaux und seinen Scheißplänen. Die Befragung von Lucies Eltern konnte warten.
Vorläufig hatte sie Besseres zu tun.
Der Laden war ein einziges Durcheinander. Der lange dunkle Gang zwischen den beiden Regalreihen bot eine ungefähre Orientierung. Mehr oder minder alphabetisch geordnet, stapelten sich Comics in engen Reihen bis zur Decke. Intergalaktische Raumschiffe hingen an Angelschnüren herab und schienen in einem geostationären Flug zu verharren. Ganz hinten hielt ein Plüschtier in Menschengröße Wache, eine Art Nagetier mit bösen Augen, der in einem Trenchcoat im Stil von Colombo steckte. Er ließ Julia an ein exhibitionistisches Murmeltier denken, und sie musste lächeln.
Außer dieser Kreatur, die an Bilal erinnerte, war keine Menschenseele zu sehen.
»Roland? Bist du da?«, rief sie.
»Eine Sekunde. Komme schon.«
Ein kleiner Kerl kam aus dem Hinterzimmer des Ladens gelaufen, die Arme vollbepackt mit Comics. Er war höchstens einen Meter sechzig groß, und sein Schädel war kahl rasiert, wenn man von der fuchsroten Puderquaste absah, die er über der Stirn trug. Trotz der runden Brille, des eng anliegenden Lycrapullovers und der Doc-Martens-Schuhe musste man sofort an Tim von Tim und Struppi denken. Lucie fand, dass er eigentlich eher wie Frodo aussah, der Hobbit aus Herr der Ringe. Er war ein außergewöhnlicher Kerl, geschlechtslos und einfach wundervoll. Sie hatte ihn im Vorjahr kennengelernt, als sie zufällig auf den Laden in der Rue Rouge, mitten im Zentrum der Altstadt, gestoßen war. Seither wurden sie immer bessere Freunde.
»Julia! Da freu ich mich aber!«
Er legte den Stapel einfach auf einen anderen, den er damit in ein instabiles Gleichgewicht brachte, und küsste die junge Frau auf die Wange.
»Hast du Urlaub?«
»Nicht wirklich.«
»Oh, oh! Bist du gekommen, um in der dritten Dimension zu ermitteln?«
Er war schon wieder mit dem Einordnen seiner Schätze
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