Wer Boeses saet
unzugängliche Insel zu kommen, auf der nichts und niemand sie erreichen konnte.
Die junge Frau wohnte im ersten Stock eines kleinen freistehenden Hauses, das in den Fünfzigerjahren unweit der Festungsmauern errichtet worden war. Bei der Unterzeichnung des Mietvertrags hatte sie sich zusammennehmen müssen, um nicht laut loszuprusten: Sie zog in die Avenue de la Folie. Heute fragte sie sich, ob sie darin nicht ein Zeichen hätte sehen sollen.
Eine heiße Dusche, einen Teller Suppe und ab ins Bett. Sofort wurde sie von einer Flut von Bildern bestürmt. Das Bild von Lucies Leiche im Leichenschauhaus; das Bild des viel zu braungebrannten Gesichts ihres Vaters, König der Friseure, Kaiser der Dreckschweine; das Bild von Galthier, diesem Idioten, der die Situation ausgenutzt hatte, um ein junges Mädchen zu bespringen.
Und dann nahmen ganz unerwartet andere Gedanken Gestalt an. Ihr Vater, wie er sie umarmte und mit Küssen bedeckte. Die Fotos nackter Kinder, die an Betten angebunden waren und von Erwachsenen, die wie Menschenfresser wirkten, in den Hintern gefickt wurden. Das Blaulicht der Polizei vor ihrem Schlafzimmer, als sie kamen, um bei dem Pädophilen eine Hausdurchsuchung vorzunehmen.
Sie schnellte hoch wie eine Sprungfeder, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Diese Ermittlung riss ihre alten Wunden wieder auf, bis sie bluteten. Wahrscheinlich weil die Opfer alle Jugendliche waren. Ihr Leiden, ihre Zerrissenheit warf sie auf ihre eigenen Probleme zurück. Auf die Zeit, als die Welt ins absolute Grauen gestürzt und sie auf einen Schlag ins Erwachsenenalter katapultiert worden war.
Sie hatte mehr Glück gehabt als die anderen. Sie war immer noch am Leben. Aber der Preis, den sie dafür hatte zahlen müssen, ließ sie immer wieder bittere Tränen vergießen.
Beim Klingelton ihres Handys schreckte sie auf. Sie schnappte sich das Gerät, das auf dem Nachttisch lag. Auf türkisblauem Grund blinkte der Name »Marchand« auf. Die Uhr zeigte 23.56 an.
Sie nahm den Anruf entgegen, ohne das Licht einzuschalten.
»Hallo …«
»Hab ich dich geweckt?«
Obwohl es schon so spät war, war sie glücklich, François’ Stimme zu hören.
»Nein. Ich hab gerade nachgedacht.«
»Worüber?«
»Unwichtige Sachen. Was ist los?«
»Ich wollte nur mal Bilanz ziehen.«
»Um Mitternacht?«
»Tut mir leid. Ich habe mich gerade erst hingelegt.«
Sie schloss die Augen, als sie merkte, dass sie etwas anderes erhofft hatte. François hatte die Stimmungsschwankung bemerkt.
»Ist alles in Ordnung?«
Sie machte Licht.
»Ja. Ich habe auch einen Wahnsinnstag hinter mir.«
»Erzählst du mir davon?«
Julia begann mit der Gruppe Iron Beast. Extrem gewaltbereite Tschetschenen mit satanistischem Einschlag, deren Texte Pierre, den jungen Katholiken aus Grenoble, wahrscheinlich beeindruckt hatten. Dann erzählte sie von ihrem Gespräch mit Barmont, dem Vater des ersten Opfers, und von dem, was sie über die kleine Friseuse herausgefunden hatte. Lucie prostituierte sich nicht nur, sondern dealte auch mit Marihuana. Alice im Land des Glücks … Aufgrund ihrer damit zusammenhängenden Aktivitäten war sie bei einer Modelagentur eingeschrieben. Julia hatte vor, dort am nächsten Morgen vorbeizuschauen.
Als jegliche Reaktion ausblieb, kam die junge Frau sich dumm vor. François gab ihr das Gefühl, als habe sie sich umsonst abgerackert. Ihre Entdeckungen bestätigten nur eines: Diese sich im freien Fall befindlichen Jugendlichen litten alle an einem gewaltigen Unbehagen.
Jetzt war der Profiler dran. Er erzählte von dem Briefing mit Hénon und Forestier, von der Annahme, dass Justine Crémant – das Opfer aus Bagnolet – dem Mörder die Tür aufgemacht hatte. Das Opfer war nicht vergewaltigt worden, diese Tatsache legte den Schluss nah, dass der Täter impotent war. Dann die Entdeckung einer neuen Fährte im Zusammenhang mit der Anorexie des Opfers. Und schließlich von der Einmischung einer Frau namens Natascha.
Für den Kommissar war jener letzte Punkt am verwirrendsten. Den Nachrichten, die sie auf Justines Blog hinterlassen hatte, war zu entnehmen, dass diese Natascha das junge Mädchen bereits kannte. Sie hatte sie während ihrer Krankheit auf eine professionelle Weise begleitet, fast schon wie eine Therapeutin, und wahrscheinlich kurz vor dem Mord mit ihr gesprochen. Nach diesem Gespräch war Justine plötzlich entschlossen gewesen: Sie hatte sich am Tag darauf umbringen wollen, das heißt, am sechzehnten Januar, dem Tag, an dem
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