Wer Böses Tut
Nicolettas Stimme, ihr müder, vorwurfsvoller Tonfall wurde fast vom Kindergeplapper im Hintergrund übertönt. Als er genug hatte, löschte er die Nachricht, ohne sie zu Ende zu hören. Warum musste sie alles so persönlich nehmen? Er spürte den vertrauten Anflug von Ärger und staunte wieder über ihre Unfähigkeit, Verständnis für seinen Job aufzubringen oder dafür, dass die Untersuchung eines Mordfalls Vorrang vor einem Familienessen hatte. Bei dem Gedanken an das Mittagessen merkte er plötzlich, wie hungrig er war: Er hatte den Tag hauptsächlich mit Kaffee und einer Handvoll Zigaretten überlebt. Er wusste, dass er versuchen sollte, vor der Besprechung am nächsten Morgen um sieben ein bisschen zu schlafen - es würde wieder ein langer Tag werden -, aber er musste etwas essen, bevor er ins Bett ging.
Er ging in die Küche, öffnete Kühlschrank und Schränke und holte eine kleine Tüte mit neuen Kartoffeln, Eier und etwas Parmesan heraus. Die Kartoffeln kamen aus Zypern, wo zweifellos der Frühling schon eingezogen war. Schnell wusch er sie und kochte sie mit Schale, ehe er sie in Scheiben schnitt und in Olivenöl goldbraun briet. Während er die Eier verquirlte und zusammen mit dem geriebenen Parmesan zu den Kartoffeln hinzufügte, gingen ihm die Ereignisse des Tages durch den Kopf.
Nach allem, was Dr. Browne gesagt hatte, hoffte er, dass das
Labor etwas Interessantes finden würde, vielleicht sogar eine DNS-Probe. Aber all das würde eine Weile dauern. Inzwischen musste es ihnen gelingen, eine Zeitschiene festzulegen. Nach allem, was er heute gehört hatte, erschien es ihm wahrscheinlich, dass Rachel Tenison am Freitagmorgen wie immer in den Park joggen ging und ihrem Mörder möglicherweise dort begegnet war. Aber da die Vergewaltigung, wenn es eine war, und der Mord einige Stunden auseinanderlagen, war das Ganze nicht eindeutig.
Als die Frittata fast fertig war, schob er sie unter den Grill, bugsierte sie anschließend auf einen Teller und schnitt sie in Viertel, bestreute sie mit Salz, Pfeffer und einer weiteren Portion Parmesan und krönte das Ganze mit einem ordentlichen Schuss Tomatenketchup. Seine Mutter hätte vor Grauen die Hände zusammengeschlagen. Tomatenketchup? Marco, wie kannst du nur? Er konnte ihre Stimme förmlich hören und sich ihren angewiderten Gesichtsausdruck vorstellen. Lächelnd nahm er den Teller und eine Flasche Bier mit ins Wohnzimmer und aß vom Schoß.
Er war schnell fertig, stellte den Teller beiseite, streckte die Beine aus und legte die Füße auf den Couchtisch. Er zündete sich eine Zigarette an und genoss die überraschende Ruhe zu dieser Stunde mitten in London; erst vor wenigen Wochen hatte er einen Fuchs draußen bellen hören. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem Fall. Willkürliche Morde waren im Allgemeinen opportunistisch, zufällige Ereignisse mit all den üblichen Anzeichen eines chaotischen, kranken Geistes. Aber die Art, wie Rachel Tenisons Körper gefesselt war, fast schon rituell, erforderte sorgfältige Vorbereitung. Und dann das seltsame Gedicht. Was auch immer der Mörder damit sagen wollte, es folgte eindeutig einem Plan.
Sie wussten noch nicht, ob sie in ihrer Wohnung oder im
Park oder tatsächlich ganz woanders umgebracht worden war, obgleich ihm der Park am logischsten erschien, je länger er darüber nachdachte. Ihre Kleider mitzunehmen, war sinnvoll. Das war die einfachste Art, forensische Beweise zu vernichten, wie jeder wusste, der ein paar Mal CSI gesehen hatte. Und wieder zeigte es, dass der Mörder organisiert dachte. Aber warum hatte er sie nach ihrem Tod so zusammengebunden und in dieser beinahe schon symbolischen Position arrangiert? Und was sollte das Gedicht? Was für eine Nachricht versuchte der Mörder zu übermitteln? Das Schwarzweißbild der nackten, gefesselt im Schnee knienden Rachel Tenison tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf. Er wurde es einfach nicht los. Seltsam, wie sich solche Eindrücke ungebeten in die Erinnerung einbrannten. Er rief sich die leere, penibel aufgeräumte, seltsam unpersönliche Wohnung ins Gedächtnis, das große Himmelbett mit den scharlachroten Vorhängen und die merkwürdigen Fotografien, und fragte sich, was für eine Frau sie gewesen war. Sie war ein Rätsel, und sie faszinierte ihn.
Ohne greifbare Antworten und mit bleiernen Lidern, drückte er die Zigarette aus. Er zwang sich aufzustehen und ins Bett zu gehen, wobei er nur kurz stehen blieb, um sich seiner Kleider zu entledigen, bevor
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