Wer Böses Tut
durch die Luft. Mit gesenktem Kopf umrundete er das unerschütterliche Häufchen Journalisten und machte sich auf den Weg hügelabwärts in Richtung U-Bahn. Er ließ sich von der abendlichen Dunkelheit einhüllen, vom Hin und Her der Passanten verschlucken, staunend über das in der nebligen Luft verschwommene Lichterspiel der Autos in der Ferne auf der Kensington High Street. Doch das Bild von der Truhe in Rachel Tenisons Schlafzimmer mit ihrem Inhalt ließ sich nicht vertreiben.
Er hatte noch aus Rachels Wohnung Donovan angerufen und sie gebeten, sofort mit Richard Greville darüber zu sprechen, um herauszufinden, ob es ihm irgendetwas sagte. Doch die Beschreibung des Mannes, der mit Rachel im La Girolle gesehen worden war, passte nicht auf Greville, und er hatte ein wasserdichtes Alibi für den Freitagmorgen. Und selbst wenn Greville auf solche Sachen stand, selbst wenn er ein wenig mehr Farbe
in das Bild bringen konnte, das sie sich von Rachel Tenison zu machen versuchten, es war nicht mehr als eine nützliche Hintergrundinformation. Alles deutete darauf hin, dass es noch jemanden gab.
Frustriert marschierte er zügig und mit kräftigen Schritten über den vereisten Gehweg, um sich warm zu halten, und dachte an das Gespräch mit Liz Volpe am Morgen, sah ihren leeren, ziellosen Blick vor sich, hörte ihre flache, heisere Stimme. »Ich war nicht da. Ich hatte keinen Kontakt« , hatte sie als schwache Ausrede angeboten. Doch das klang einfach nicht ehrlich. Wie sie nur allzu gut wussten, war es im Zeitalter von Telefon, E-Mail, Blackberrys und solchen Dingen kaum noch möglich, keinen Kontakt zu haben. Körperliche Abwesenheit bedeutete Familie, Freunden oder Mitarbeitern gar nichts mehr. Man war immer erreichbar, ob es einem gefiel oder nicht. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass Liz ihn von irgendetwas abzulenken versuchte, etwas, worüber sie nicht reden wollte. Sein Bauchgefühl nagte an ihm, sagte ihm, dass er allerhöchstens eine unvollständige Version bekommen hatte, und er brannte darauf herauszufinden, was sie weggelassen hatte und warum.
Liz Volpe stellte das Rotweinglas auf den Badewannenrand und drehte die Wasserhähne zu. Die Wanne war voll genug, das Wasser stand schon fast am Überlauf. Schnell drehte sie ihre Haare zu einem Knoten und steckte ihn auf dem Kopf fest. Sie ließ den alten Frotteebademantel ihres Bruders auf die Fliesen fallen und testete das Wasser mit den Zehenspitzen. Dampf stieg von der Oberfläche auf, das Wasser war kochend heiß, ganz wie sie es mochte, schaumig und angenehm duftend. Ganz hinten im Badezimmerschrank hatte sie einen Badezusatz gefunden.
Sie stieg in die Wanne und ließ sich langsam und mit geschlossenen Augen ins Wasser gleiten, bis es gerade ihr Kinn
berührte. Das fühlte sich gut an nach der klirrenden Kälte da draußen, und sie blieb einige Minuten lang mit geschlossenen Augen liegen und versuchte zu vergessen, wo sie war. Ihre Gedanken wanderten zu dem Vorstellungsgespräch, das sie an diesem Tag für eine Stelle als Kuratorin an einem der Londoner Museen geführt hatte, und sie spielte in Gedanken die Gespräche, das allgemeine Verhalten und die Körpersprache der unterschiedlichen Menschen durch, die sie getroffen hatte. Selbst da, als sie über sich sprach und die Gründe, warum sie nach London zurückkehrte, war es ihr schwergefallen, sich zu konzentrieren. Sie war sich sicher, dass sie einen schlechten Eindruck hinterlassen hatte. Es war unmöglich, normal zu sein, die Gedanken an Rachel und die Bilder auszusperren. Sie konnte ihre Stimme so deutlich hören; was sie gesagt hatte, ließ sich einfach nicht verdrängen.
Gerade als sie die Augen öffnete und nach dem Weinglas greifen wollte, begann das Telefon in der Diele zu klingeln. Sie lauschte, hörte erst die knappe Ansage ihres Bruders, als sich der Anrufbeantworter einschaltete, gefolgt von Jonathans tiefer, rauer Stimme.
»Bist du da, Lizzie, Liebes? Nimm ab, ja? Lizzie... hallo? Ich bin’s.« Die Worte klangen ein wenig verwaschen. Eine Pause entstand, und sie dachte, er hätte aufgelegt. Dann sagte er, diesmal ernster: »Geh dran, Liz. Ich weiß, dass du da bist. Ich bin vor fünf Minuten an deiner Tür vorbeigegangen, und es brannte Licht. Hör mal, ich muss dich sehen. Ich muss mit dir reden. Was mit Rachel passiert ist, treibt mich in den Wahnsinn, ja das tut es. Ich fühle mich schrecklich. Ruf mich an, ja? Ich gehe ins Electric was trinken. Ich muss dich wirklich sehen. Bitte.«
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