Wer braucht denn schon Liebe
heraus. Im Herumschnellen grabschte sie nach dem Bein des Kleinen, zog ihn zu sich heran und presste ihm die Hand auf den Mund.
»Sei still! Ich tu dir doch nichts!«, zischte sie, während der Kleine sich heftig unter ihrem festen Griff wand.
»Das ich sehen anders, Signora!«, hörte sie hinter sich eine tiefe männliche Stimme in gebrochenem Deutsch. »Lassen Sie ihn los. Bitte!«« Sein Tonfall widersprach der höflichen Formulierung. Bei seinen Worten handelte es sich um einen eindeutigen Befehl – und sie tat gut daran, ihn zu befolgen. Denn ohne dass sie sich umzudrehen brauchte, erkannte sie an dem empörten Stimmengemurmel, dass mindestens ein halbes Dutzend Männer der Hochzeitsgesellschaft, die ihr bestimmt nicht freundlich gesonnen waren, genau hinter ihr standen.
Gehorsam ließ sie den Jungen los. Der bedankte sich, indem er erneut vorschoss und ihr ins Fleisch des Handballens biss.
»Au!« Die Tränen schossen ihr schneller in die Augen, als sie den Schmerz fühlte. Erschüttert starrte sie erst den Jungen, dann ihre Hand an. Seine kleinen spitzen Milchzähne hatten eine sichelförmige Spur tiefer Eindrücke in ihrem Fleisch hinterlassen, aus denen nun langsam erste Blutstropfen sickerten.
»He! Was bist du?! Ein Vampir oder was?!« Sie begann an der Wunde zu saugen, doch dann erinnerte sie sich daran, dass die Zähne des kleinen Ungeheuers vor Bakterien vermutlich nur so wimmelten. Angewidert spuckte sie aus, direkt vor die Füße des Mannes, der sie angesprochen hatte.
Unter heftigen Flüchen packte er Karen am Oberarm und zerrte sie, eskortiert von seinen finster dreinblickenden Kumpanen, mit sich fort hinüber in den Kreis der Frauen, die sie aufgeregt erwarteten. Angesichts ihrer zornesroten Mienen begann Karen, sich ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit zu machen.
Als die erste Ohrfeige sie traf, flog ihr Kopf nach links. Aus den Augenwinkeln erkannte sie eine Frau, die ihre langen braunen Haare zu einem Knoten zusammengebunden trug, der sich nun aufzulösen begann. Die tiefbraunen Augen der Frau funkelten wie schwarze Kohlenstücke in ihrem käsigen Gesicht.
»He! Was soll das?! Gewalt ist doch keine Lösung!«, protestierte Karen, duckte sich aber vorsichtshalber, um den zweiten Schlag abzuwehren. Den nächsten Schlag sah sie dann schon im Voraus kommen.
Es gibt nichts, worüber man nicht reden kann, pflegte ihre Oma Käthe immer zu sagen. Gewalt ist unentschuldbar.
Tja, Oma, und nun? Soll ich dieser Furie wirklich erlauben, mich zu Sauce Bolognese zu verarbeiten?!
In einem letzten verzweifelten Versuch, die Situation nicht eskalieren zu lassen, streckte Karen der Furie die Finger zum Peace-Zeichen geformt entgegen.
»Scusi, molto. Non voglio …« … ihrem Kind wehtun, hatte Karen fortfahren wollen, doch da holte Signora Brutala bereits zum nächsten Schwinger aus.
Gewaltfreiheit hin oder her – langsam verging Karen die Lust, sich verprügeln zu lassen. Zur Masochistin fühlte sie sich dann doch nicht berufen. Federnd ging sie in die Knie, um ihrer Widersacherin den Kopf in den Bauch zu rammen.
»Uff.« Ein Geräusch, als ob die Luft aus einem Gummireifen entwich. Sichtlich angeschlagen flappte die Frau mit dem Oberkörper nach vorn, schaffte es aber noch, Karen bei ihren Locken zu erwischen. Als sie zu Boden ging, riss sie Karen gleich mit.
»Mein Skalp gehört mir, du Schlampe!«, keifte Karen erbittert. Ihre Kopfhaut fühlte sich wie frisch rasiert und mit Alkohol betupft an. Es brannte höllisch.
Dafür sollte das Weib büßen. Wie entfesselt stürzte Karen sich auf ihre Gegnerin.
»Ein Boxkampf zwischen Frauen? Ein ungewöhnliches Vergnügen für eine Hochzeitsfeier, finden Sie nicht?« Nur wenige Meter entfernt, hinter einer Hauswand verborgen, half Lorenzo dem Koch dabei, Körbe mit Tomaten in die Küche zu tragen. Es hatte ihn ein wenig Überredungskunst gekostet, den kleinen Deal auszuhandeln: einmal Lieferwagen abladen und Gemüse putzen in der Küche gegen zwei warme Mahlzeiten. Das reinste Abenteuer für jemanden, der es gewohnt war, die Mahlzeiten bei Bedarf auf goldenen Tellern serviert zu bekommen. Aber eins, das voll und ganz seinem Geschmack entsprach. Auf der Suche nach dem einfachen Leben und sich selbst war er schließlich von zu Hause aufgebrochen. Zwar verfügte er auch noch über eine kleine Menge Bargeld, doch die wollte er sich so lange wie möglich aufsparen. Ebenso wie die Kreditkarte, die für Notfälle sicher in seinem Schuh versteckt und auf den
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