Wer braucht schon Liebe
erschöpft von der Anstrengung. Während ich durch die Eingangshalle gehe, fühle ich, wie meine Schultern sich entspannen. Wenigstens hier kann ich ich selbst sein. Aber dann händigt mein Vater mir einen Brief mit einer amerikanischen Briefmarke aus. Mein Herz hämmert wie verrückt. Bis ich sehe, dass er aus New York kommt.
» Er ist von Marsha«, sagt er.
Ich gebe ihn zurück.
» Komm schon, Alex. Lass sie erklären. Sie hat immer viel Zeit für dich gehabt …«
Ich werfe ihm einen » Ja, klar«-Blick zu.
» Lies einfach, was sie zu sagen hat, und dann mach, was du willst. Ignorier es. Zerreiß den Brief in tausend Stücke. Aber du solltest ihn lesen.«
Und nur weil ich weiß, dass es nichts ändern wird, tue ich es.
Liebe Alex,
es tut mir so leid. Ich wollte nie, dass so etwas passiert. Ich bewundere deinen Vater wirklich sehr. Er war so gut zu mir. Manchmal sind Menschen einfach so einsam und traurig, dass sie Sachen tun, die sie normalerweise nie tun würden. Ich versuche nicht, mich herauszureden. Es tut mir wahnsinnig leid, was das für dich und deinen Dad bedeutet hat. Ich will, dass du weißt, dass mir sehr viel an der Freundschaft liegt, die wir hatten. Du bist ein wunderbarer Mensch. Das meine ich ernst. Ich werde nicht zurückkommen – an dieser Stelle wirst du Hurra rufen –, ich gebe meine Stylisten-Karriere auf. Ich fange wieder als Modedesignerin an. Dafür möchte ich dir danken. Durch dich habe ich begriffen, was mir wirklich Spaß macht und worin ich gut bin. Viel Glück mit allem, Alex.
Liebe Grüße
Marsha
PS : Über deinen Vater will ich nur eines sagen: Er ist ein guter Mensch.
Ich gebe ihm den Brief zurück. » Das ändert gar nichts.«
***
Aber später, als ich im Bett liege, denke ich über den einen Satz nach, der mich angesprungen und mir ins Gesicht geschlagen hat. » Manchmal sind Menschen einfach so einsam und traurig, dass sie Sachen tun, die sie normalerweise nie tun würden.« Ich denke an Louis. Und zum ersten Mal verstehe ich vielleicht, was vor sich geht. Aber deswegen kann ich mich auch nicht besser leiden.
Ich lebe jetzt drei Leben. Bei der Arbeit bin ich eine Person. Bei Louis eine andere. Zu Hause wieder jemand anders. Manchmal sind meine Mitmenschen nicht glücklich darüber. Nehmen wir zum Beispiel Louis. Er will immer reden. Will immer mehr wissen.
» Welche Figur aus den Simpsons gefällt dir am besten?«, fragt er eines Tages.
Ich lache. Denn wenn es eine Frage gibt, die mich zum Reden bringen könnte, dann diese. Trotzdem rede ich nicht.
» Lass mich raten«, fängt er an.
» Ich schaue mir die Simpsons nicht an«, sage ich, damit er aufhört.
Er zieht lange an seiner Zigarette. » Warum hast du deinen Hund dann Homer genannt?«
Ich setze mich auf. » Wer hat dir von Homer erzählt?«
» Wie es der Zufall so will, ist meine Schwester deine Freundin.«
» Du hast doch nicht etwa mit ihr über mich geredet, oder?«
» Entspann dich«, sagt er gelassen wie immer. » Ich habe mit niemandem über dich geredet. Aber ich habe Ohren.«
» Richtig, na ja, nur fürs Protokoll: Rede nicht mit ihr, okay?«
Er tut so, als hätte ihn das gekränkt. » Willst du nicht, dass die Leute über uns Bescheid wissen?«
» Es gibt kein ›uns‹.«
Er sieht auf das Bett hinab, als wollte er sagen: » Was ist das dann?«
» Okay, das reicht! Ich stehe auf.« Aber ich stecke zwischen ihm und der Wand fest und muss warten, dass er zur Seite rutscht. Was er nicht tut. Also klettere ich über ihn drüber.
Grober Fehler. Er umfasst meine Hüften und zieht mich hinunter.
» Okay«, sagt er mit einem bescheuerten Grinsen, » ich kapier’s schon. Es ist nichts Ernstes. Also komm her.«
Dann ist da Pat, eine erwachsene Frau, die mit mir redet, als wären wir befreundet. Sie ist fast genauso schlimm wie die Stylistin.
» Ziemlich ausgedehnte Mittagspause«, sagt sie, als ich zurückkomme. Sie lächelt.
» Entschuldigung«, sage ich. » Da ist nur etwas, was ich in der Mittagspause tun muss.«
» Solange du Spaß hast.«
Und mir kommt der Gedanke, dass sie es vielleicht sarkastisch meint. » Ich könnte am Samstag arbeiten, um die Zeit reinzuholen.«
» Auf keinen Fall!« Sie lacht. » Ich habe nur Spaß gemacht.«
» Ich habe sowieso nichts vor.«
» Du bist sechzehn, Alex. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du am Samstag eine Menge vorhast.« Sie sieht ein bisschen wehmütig aus.
» Nein, im Ernst. Ich würde gern arbeiten.«
» Du wirst nicht am Samstag
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