Wer braucht schon Zauberworte? (German Edition)
ich zu ihr?“ Junus‘ Blick wird traurig.
„
Es tut mir so leid, Kleines, aber unsere Eltern starben in der Nacht unserer Flucht.“ Ich drehe ihm den Rücken zu. Mein Kopf presst sich an die Fensterscheibe. Sogleich fluten Tränen meine Augen. Junus umarmt mich von hinten. „Sie haben ihr Leben gegeben, damit wir in Sicherheit sind.“
„
Was ist passiert? Ich erinnere mich nicht mehr, was genau in der Nacht geschehen ist?“, schluchze ich.
„
Die Dorfbewohner haben unser Haus gestürmt.“
„
Wieso denn?“
„
Alles zu seiner Zeit Hope. Ich will dir nicht noch mehr Angst machen, als du schon hast.“ Ich dachte, ich verberge meine zitternden Hände gut in meinen Fäusten. Mein Bruder dreht mich zu sich um und streicht mir liebevoll über die Wange.
„
Ruh dich aus. Uns bleibt noch genügend Zeit, um uns alles zu erzählen“, schlägt er vor. Nein, ich kann nicht.
„
Meine Eltern – also Zieheltern. Ich muss zu ihnen. Sie machen sich bestimmt Sorgen“, erkläre ich. Erneut werden seine Züge schmerzverzerrt.
„
Nein“, hauche ich panisch.
„
Es tut mir so leid, ich kam zu spät zu ihm zurück. Als er mich gerufen hat, hatte er es bereits getan.“ Nein, nein, nein. Meiner Kehle entweicht ein qualvolles Stöhnen. Binnen Sekunden geben meine Knie nach. Der Schmerz durchbohrt mich.
Wie lange ich in seinen Armen weine, weiß ich nicht mehr. Was ich weiß ist, dass mich Junus stundenlang wiegt, wie ein kleines Kind.
Tagelang bin ich wie in Trance, vermag mich kaum wachzuhalten. Nicht mal weinen kann ich mehr. Mein Bruder ist immer da und kümmert sich liebevoll um mich. Er hilft mir durch diese schwere Zeit hindurch.
Als ich eines Morgens erwache, liege ich in den Armen meines Bruders. Er schläft. Meine Eingeweide ziehen sich krampfhaft zusammen. Ich habe alle verloren, die ich liebe. Junus ist mir als Einziger geblieben. Ich bin so froh, dass er hier ist.
Sein Hemd steht etwas offen. Er trägt noch weitere Tätowierungen. Die Symbole sind mir fremd. Meine Finger streichen über den Baum an seinem Handgelenk.
Schlaftrunken öffnet er die Augen und lächelt. Er ist mir so vertraut. Sein Lächeln hat die Zeit überdauert – es hat sich nicht verändert. Ich erinnere mich, dass ich es sehr geliebt habe, wenn er mich angesehen hat. Sein Kopf neigt sich zu mir und er küsst meine Stirn. Auch das hat er immer getan. Das stille Vertrauen zwischen uns erfüllt mein Herz mit solch einer Geborgenheit, die ich kaum zu beschreiben vermag.
„
Gefallen dir meine Tätowierungen?“, will er wissen. Ich nicke und er erklärt: „Schon bald werden auch welche deinen Körper zieren.“ Ich reiße die Augen auf.
„
Das kannst du vergessen. Ich lasse mich nicht tätowieren.“ Sein herzhaftes Lachen erfüllt den Raum.
„
Darüber reden wir noch einmal Hope, aber bis dahin, lasse ich dir deinen Willen.“ Ich weiß nicht, was er damit sagen will, aber ich frage nicht näher nach. Eigentlich bin ich nur froh, dass dieses Thema vom Tisch ist.
„
Junus? Ich muss zur Polizei gehen. Meine Eltern ... Zieheltern ... sie sind doch noch im Haus, ich ...“ „Schhhh“, unterbricht er mich. „Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich habe mich darum gekümmert. Die Polizei wird dir keine Fragen stellen. Hör mir gut zu Hope. Du darfst niemandem davon erzählen. Hörst du?“
„
Aber der Mörder läuft noch frei herum“, wende ich ein.
„
Darum kümmere ich mich später. Bis dahin gilt meine Aufmerksamkeit allein dir. Du musst jetzt erst einmal eine von uns werden.“ Hä?
„
Was bedeutet das?“
„
Du hast doch gehört, was der Mann über dich gesagt hat. Dass du eine Gabe hast. Kannst du erahnen, wovon er gesprochen hat?“
„
Keine Ahnung. Ich … ich bin eine ganz passable Turnerin, aber das ist keine Gabe. Das kommt eher vom vielen Training.“ Er zieht die Augenbrauen hoch.
„
Das musst du mir bei Gelegenheit vorführen, Hope. Aber davon hat er nicht gesprochen. Sag mir, ob du schon einmal etwas erlebt hast, wobei du dir nicht erklären konntest, wie das passiert ist.“ Ich überlege krampfhaft.
„
Ich hab absolut keine Ahnung, worauf du hinaus willst Junus. Man könnte meinen,
du
hast den Schlag auf den Kopf abbekommen, nicht ich.“ Er lacht wieder laut auf.
„
Du weißt, dass der Schlag mir mehr wehgetan hat, als dir. Da ist mein Beschützerinstinkt mit mir durchgegangen. Wenn er dich gefunden hätte ... Das hätte ich mir nie verziehen, dich nicht beschützt zu
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