Wer bricht das Schweigen (German Edition)
sicher brauchen. Ob er von dem schrecklichen Unfall schon erfahren hatte? Aber dass er sich deshalb gleich so aufregte. In seiner Klinik, in der er früher einmal gearbeitet hatte, kam es doch jeden Tag vor, dass er mit Kranken und Verletzten zu tun hatte. Allerdings hatte er die Leute vorher nicht gekannt.
„ Können Sie mir nicht verraten, was Ihnen auf einmal die Laune verhagelt hat?“, fragte sie hilflos.
„Sie haben sicher auch noch nichts von diesem Unfall gehört, Frau Krämer“, begann er zögernd. „Es ist ja erst gestern Abend passiert.“
„ Sie meinen Frau Sommer? Sie wissen schon Bescheid?
„ Es ist also wahr.“ Er sackte förmlich in sich zusammen. „Ich habe es geahnt. Das ist alles nur meine Schuld. Ich hätte die Frau nicht fortgehen lassen dürfen. Nicht so .“ Er brach ab. Das Gesicht in den Händen vergraben saß er da und rührte sich nicht.
„ Ich finde es ja auch tragisch, dass dieser Unfall passiert ist“, meinte die alte Frau hilflos. „Frau Sommer war ja noch viel zu jung, um schon zu sterben.“
„ Was sagen Sie da?“, fuhr er auf. „Sie ist tot?“
„Sie starb noch im Krankenwagen“, bestätigte die Haushälterin. „Eine Nachbarin, deren Tochter im Krankenhaus arbeitet, hat es mir noch gestern Abend erzählt. Die Leute reden ja davon, dass sie mit Absicht gegen diese dicke Mauer gefahren ist, aber das kann ich nicht glauben. Warum sollte sie das tun?“
Michael wusste die Antwort. Bettina Sommer sah keinen Ausweg mehr, darum hatte sie einfach Schluss gemacht. Sie hatte es ihm sogar angedeutet, was
sie vorhatte, fiel ihm wieder ein. Er konnte sich nur nicht mehr genau an ihre Worte erinnern. Konnte er mit dieser Schuld einfach weitermachen, als ob ihn das alles nichts anginge? Ich habe einen Menschen im Stich gelassen, der mich um Hilfe gebeten hat, warf er sich verzweifelt vor. Bettina Sommer könnte heute noch leben, wenn ich ihr das Geld gegeben hätte. Meine Schulden wären mir dadurch nicht gleich über den Kopf gewachsen. Er zerfleischte sich regelrecht mit seinen Selbstanklagen.
Hilflos stand die alte Frau neben ihm und fragte sich, wie sie ihm helfen konnte. Was konnte sie denn noch dazu sagen, um ihren Doktor wieder aufzurichten?
„ Sie sollten zuerst einmal abwarten, zu welchem Schluss die Polizei kommt, Herr Doktor“, begann sie. „Es ist ja noch nicht erwiesen, dass die Frau den Unfall mit Absicht verursacht hat. Genauso könnte sie doch auch zu schnell gefahren sein.“
Er hörte nicht mehr auf sie. Wie bei einem Karussell kreisten seine Gedanken immer nur um das eine: Durch meine Schuld ist ein junger Mensch ums Leben gekommen. Mit dieser Schuld muss ich nun versuchen, irgendwie weiterzuleben. Aber wie? Darüber musste er noch ausgiebig nachdenken.
Die Haushälterin sah ein, dass sie im Augenblick nichts für ihren Doktor tun konnte. Sie war davon überzeugt, dass er sich schon wieder fangen würde, wenn er erst eine Weile in Ruhe darüber nachgedacht hatte. Zum Glück war das Wartezimmer leer, sie hätte die Leute sonst wohl nach Hause schicken müssen.
* * *
Wie laut die Kinder heute wieder sind, stellte Janina fest, als sie im Schulhof die Pausenaufsicht übernahm. „Die Kletterei hört sofort auf“, verlangte sie scharf, als sie zwei Buben aus ihrer Klasse dabei überraschte, wie sie in einen alten Kastanienbaum einzusteigen versuchten. „Wollt ihr vielleicht die Ferien mit einem Gipsbein verbringen?“, versuchte sie ihr Verbot zu erklären. „Die Rinde ist noch feucht. Mit euren Turnschuhen könntet ihr da leicht abrutschen.“
„ Daran haben wir ehrlich nicht gedacht, Frau Meisner“, beteuerte der kleine Tim. „Mein Papa würde schön schimpfen, wenn wir meinetwegen nicht ans Meer fahren könnten. Erst heute Morgen hat er zu mir gesagt, dass er reif für die Insel ist.“
Janina musste lachen. Nach einem Jahr schwerer Arbeit in der Ziegelei konnte sie sich allerdings vorstellen, dass Tims Vater dringend einen Klimawechsel brauchte.
„ Die Pause ist zu Ende“, rief sie. Jetzt galt es nur noch, die letzte Schulstunde irgendwie zu überstehen, dann konnten die Ferien beginnen. Janina entschloss sich, kleine Wortspiele mit den Kindern zu machen. Sie sah ein, dass ein vernünftiger Unterricht einfach nicht mehr zustande kam.
Als es dann endlich soweit war, und sich ein Kind nach dem anderen von ihr verabschiedete, atmete sie erleichtert auf. Sie liebte Kinder, nur darum wollte
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