Wer bricht das Schweigen (German Edition)
sie Lehrerin werden, aber an einem Tag wie diesem waren sie wirklich anstrengend.
Janina trat ans Fenster. Sie öffnete beide Flügel, um den Raum noch einmal gründlich durchzulüften. Eine würzige frische Luft kam ihr entgegen, nachdem es am Morgen einmal kurz geregnet hatte. Die plötzliche Stille um sie herum war wohltuend. Sie dachte an ihr Versprechen, das sie Michael gegeben hatte, als sie sich nach Mitternacht an ihrer
Haust ür voneinander verabschiedet hatten. „Du kommst in meine Sprechstunde, Janina, hatte er von ihr verlangt. Als sie lachend protestierte, weil ihr ja eigentlich nichts fehlte, hatte er nur gemeint: „Irgend etwas findet sich immer. Ich könnte dir zum Beispiel den Rücken massieren, damit er nicht mehr so verspannt ist. Du hast ja keine Ahnung, wie gut ich das kann.“
Die junge Lehrerin musste auch jetzt wieder in sich hineinlachen, als sie sich daran erinnerte. Sie war so unbeschreiblich glücklich, dass es ihr fast die Brust sprengte. Vergessen waren die Demütigungen, die sie einmal fast am Leben verzweifeln ließen. Sie liebte und wurde geliebt, und diesmal war es für immer. Einem Menschen wie Michael zu begegnen, war wie ein Sechser im Lotto. Die Leute hier in Diebach hatten es längst erkannt, nur bei ihr dauerte es etwas länger, bis sie begriffen hatte, dass sie ihm vertrauen konnte.
Ihre Sehnsucht nach Michael wurde auf einmal übermächtig. Sie schloss die Fenster, um in ihre Wohnung hinaufzugehen. Bevor sie zum Doktorhaus ging, wollte sie sich natürlich noch frisch machen. Als sie dann auch noch Kreidespuren auf ihrem dunklen Leinenrock bemerkte, musste sie sich auch noch umziehen.
In dem kleinen Vorgarten sah sie schon von weitem Mama Lisa sitzen, wie Michael seine Haushälterin zärtlich genannt hatte. Janina hatte sich schon gelegentlich mit der Frau unterhalten, wenn sie sich irgendwo auf der Straße oder im Krämerladen begegnet waren.
Je näher sie kam, desto missmutiger wirkte das Gesicht der alten Frau. Irgendeine Laus schien Frau Krämer über die Leber gelaufen zu sein. Ob sie etwas dagegen hat, dass Michael und ich...?
Janina konnte es sich nicht vorstellen. Sie nahm sich vor, der Haushälterin so bald wie möglich zu sagen, dass sie keineswegs die Absicht hatte, sie aus ihrem Reich zu verdrängen.
„ Ist es nicht ein wenig kühl hier zum Sitzen, Frau Krämer?“, erkundigte sie sich besorgt, nachdem sie der Frau zur Begrüßung die Hand gegeben hatte.
„ Mir nicht“, kam es nicht gerade freundlich zurück.
Janina nahm es ihr nicht übel. Sie würde schon noch herausfinden, über was sich die sonst liebenswerte alte Dame geärgert hatte. „Doktor Baumann ist doch sicher noch da?“, fragte sie.
Die Haushälterin nickte. Einen Augenblick schien es Janina, als ob sie ihr noch etwas sagen wollte, aber dann ließ sie es lieber bleiben. Janina entschloss sich, ins Wartezimmer zu gehen, und darauf zu warten, dass Michael sie zu sich hereinholte. Sie lachte in sich hinein, als sie sich sein überraschtes Gesicht vorstellte, wenn er sie sah. Schließlich hatte sie ihm ja nicht versprochen, dass sie kommen würde.
Das Wartezimmer war leer, als sie eintrat. Janina ließ sich auf einem Stuhl gegenüber der Tür nieder, die in sein Sprechzimmer führte. So musste er sie gleich sehen, wenn er aufmachte. Sie wartete und wartete, aber es tat sich nichts. Michael scheint zu glauben, dass niemand mehr da ist.
Leise öffnete sie die Tür zu seinem Sprechzimmer. Ihr Blick fiel auf einen dunklen Haarschopf. Der Arzt saß an seinem Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben. Ob er schlief? Ausgeschlossen war es nicht, stellte sie amüsiert fest.
Viel Schlaf konnte er in der vergangenen Nacht nicht bekommen haben. Sollte sie ihn lieber schlafen lassen und wieder nach Hause gehen? Oder war es ihm lieber, wenn sie ihn einfach aufweckte?
Während Janina noch ratlos dastand, schaute er auf einmal auf. Sie erschrak, als sie in sein Gesicht schaute. Er sah richtig elend aus. Seine Augen waren rot und feucht. Ob er geweint hatte? Dazu konnte er doch keinen Grund haben. Bereute er es etwa schon, dass er sich mit ihr eingelassen hatte? Diese Veränderung jagte ihr ein eisiges Gefühl durch alle Glieder. Die Fremdheit, die auf einmal von ihm ausging, bestätigte ihren grausamen Verdacht immer mehr. Es kam ihr so vor, als ob er durch sie hindurch sah.
„ Könntest du mir jetzt sagen, was auf einmal los ist, Michael“, bat sie
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