Wer bricht das Schweigen (German Edition)
mehr zu helfen ist, Herr Doktor. Irgendwie würde ich es sicher schaffen, mir die Sahnetorten und am Abend auch noch die fette Leberwurst zu verkneifen. Eines Tages hätte ich dann vielleicht wieder die Figur, auf die mein Mann immer so stolz war, als wir noch keine Kinder hatten.“ Sie lächelte versonnen, als sie sich wieder an diese Zeit erinnerte. „Lieber nicht“, meinte sie dann. „Ich muss immer wieder an diese junge Frau aus Windsheim denken, die gestern Abend hier in der Nähe verunglückt ist. Sie war so jung und wunderschön. Vor allem aber war sie gertenschlank. Ich vermute, sie hat den ganzen Tag nur Grünzeug gegessen. Und nun ist sie so schwer verletzt. Ich frage mich nur, warum sie das getan hat.“
„ Ich habe keine Ahnung, von was Sie sprechen, Frau Merkle.“ Eine dumpfe Vorahnung beschlich ihn, gegen die er sich vergeblich wehrte. „Ist etwas passiert?“
„ Das kann man wohl sagen. Ich habe die junge Frau sogar flüchtig gekannt. Wir haben darüber geredet, wie man Rosen schneidet. Ihren Namen weiß ich allerdings nicht mehr. Dagegen habe ich mich sofort wieder an sie erinnert, als ich ihre Autonummer hörte. Ich habe ein einmaliges Zahlengedächtnis“, sagte sie stolz. „Die Leute sagen, dass die
Ungl ücksfahrerin aus Windsheim stammt. Sie wohnt allerdings noch nicht lange dort.“
Frau Sommer wohnt in Windsheim, schoss es dem Arzt durch den Kopf. „Was ist denn jetzt genau mit ihr passiert,. Frau Merkle?“, fragte er ungeduldig. „Können Sie mir das nicht endlich sagen?“
„ Natürlich kann ich das, Herr Doktor.“ Die Patientin war sichtlich verwundert darüber, dass er sich so aufzuregen schien. „Die Frau befand sich auf dem Weg nach Windsheim. Nur noch wenige Meter von den ersten Häusern entfernt ist sie mit ihrem Wagen von der Straße abgekommen und gegen eine Mauer geprallt, die noch aus grauer Vorzeit übriggeblieben war. Wenn Sie mich fragen, dann hat sie das absichtlich getan. Die Straße war trocken. Niemand war zu diesem Zeitpunkt in ihrer Nähe, der sie von der Straße hätte abdrängen können. Es gibt absolut keinen Grund, warum sie ausgerechnet auf dieses kurze Stück Mauer prallen musste. Das verdächtige dabei ist auch noch, dass nicht die geringste Bremsspur zu sehen ist.“
„ Woher wissen Sie das alles so genau, Frau Merkle?“, erkundigte sich Michael automatisch. Insgeheim hoffte er noch, dass sich seine Befürchtungen als falsch herausstellten.
„Mein M ann kam gerade dazu, als die Polizei das Unfallgeschehen aufnahm. Er kegelt immer am Mittwoch in Windsheim“, erklärte sie. „Als er dazukam, wurde die Verletzte gerade in den Krankenwagen geschoben. Mein Walter ist sich ziemlich sicher, dass sich der Weg ins Krankenhaus nicht mehr gelohnt hat.“
Bettina Sommer kann es auf gar keinen Fall gewesen sein, versuchte sich Michael einzureden, aber es änderte nichts daran, dass ihm auf einmal schrecklich übel wurde. „Um welche Zeit ist Ihr Mann zum Kegeln gefahren, Frau Merkle?“, erkundigte er sich beiläufig.
„ Halb sieben war es, als er daheim wegfuhr. Das weiß ich deshalb so genau, weil wir uns da immer zum Abendessen hinsetzen. Mein Mann wollte aber nichts, weil er mit vollem Magen nicht mehr kegeln kann.“
Der Arzt versuchte sich zu erinnern, um welche Zeit Bettina Sommer seine Praxis verlassen hatte. Es muss mindestens eine halbe Stunde früher gewesen sein, versuchte er sich einzureden, aber insgeheim stand bereits für ihn fest, dass die Zeiten genau übereinstimmen könnten. Ich muss den Namen der Verletzten wissen, sagte er sich erregt. Vor allem aber auch, ob die Frau noch lebt.
Michael war erleichtert, als er die Patientin endlich zur Tür begleiten konnte. Sie schien nicht die geringste Ahnung zu haben, wie nahe ihm ihre Geschichte ging.
„ Eine Tasse Kaffee zwischendurch weckt die Lebensgeister, Herr Doktor“, stellte Lisa Krämer fest, als sie mit einer dampfenden Tasse zur Tür hereinkam. Ein kurzer Blick in sein düsteres Gesicht ließ sie sofort ahnen, dass etwas nicht in Ordnung war. „Ist etwas passiert?“, erkundigte sie sich misstrauisch. „Was haben Sie denn auf einmal, Herr Doktor? Vor einer Weile haben Sie doch noch behauptet, dass Sie der glücklichste Mensch auf dieser Erde sind.“
„ Habe ich das wirklich gesagt, Frau Krämer?“, fragte er niedergeschlagen. „Das kann ich kaum glauben.“
Sie stellte die Tasse auf seinem Schreibtisch ab. Den konnte er jetzt
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