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Wer einmal auf dem Friedhof liegt...

Wer einmal auf dem Friedhof liegt...

Titel: Wer einmal auf dem Friedhof liegt... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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störe nicht“, sage ich.
    „Was verstehen Sie unter
,stören’ ?“ gibt Régine aggressiv zurück.
    „Nicht, was Sie vielleicht darunter
verstehen“, antworte ich achselzuckend. „Sie hätten ja zum Beispiel schlafen
können.“
    „Um kurz nach neun?“ fragt sie ironisch.
    „Müde kann man zu jeder Tages- und
Nachtzeit sein. Genauso wie durstig.“
    Ich schnappe mir eine Whiskyflasche
und schraube den Verschluß auf.
    „Ich bin aber nicht müde.“
    „Durstig?“
    „Ich hab ferngesehen.“
    „Gutes Programm?“
    „Hab kaum hingeguckt... Ihre Idee war
gar nicht so schlecht“, sagt sie in verändertem Tonfall und zeigt auf die
Flaschenbatterie. „Ich hab nichts zu Hause.“
    „Seien Sie mir nicht böse, aber wenn
ich mir Ihr Gesicht ansehe...“ Ich gehe zu ihr und fasse sie an den Schultern.
„Was ist denn los, hm? Was wollen Sie vergessen? Ärger? Erzählen Sie mir, was
Sie bedrückt. Ich schlag’s dann auf meine Sorgen drauf...“
    Sie zittert, weicht meinem Blick aus.
    „Ich habe nichts, wirklich!“
    „Sie haben Angst!“
    Anstatt einer Antwort wirft sie sich
in meine Arme und fängt an zu weinen. Zum Glück hab ich vorher die
Whiskyflasche auf das Tischchen gestellt. Régines Haar kitzelt mein Gesicht.
Außer ihrem Parfüm steigt mir noch ein anderer Duft in die Nase, ein Duft von
animalisch sinnlicher Wärme. Unsere Herzen schlagen im Takt. Weiter oben spüre
ich durch das hauchzarte Negligé ihre Kehle zittern. Aber das Mädchen verlangt
nicht nach körperlicher Liebe. Mir muß schon etwas anderes einfallen, um sie zu
beruhigen.
    „Oh, Nes!“ flüstert sie zwischen zwei
Schluchzern. „Ja, ich habe Angst!“
    „Wovor?“
    „Vor dem, was passiert.“
    „Was ist denn jetzt schon wieder
passiert?“
    „Nichts weiter... Aber... genügt das
nicht? ...Yolande...“
    „Sie wird wieder auftauchen.“
    „Sie sagen das nur, um mich zu
beruhigen.“
    „Aber, aber...“
    Ich greife in ihre Haarpracht und
streichle ihren Nacken. Ganz langsam beruhigt sie sich wieder und hört auf zu
heulen. Ich fasse ihr Kinn und zwinge sie, mich anzusehen. Irgend
etwas ist in ihren feuchten Augen... Ich weiß nicht, was... Irgend etwas , das nicht über ihre Lippen kommt. Gut, das
verstehe ich. Übrigens ist das das einzige, was ich verstehe. Ich gehe mit dem
Mädchen zum Sofa und reiche ihr ein Taschentuch.
    „Putz dir die Nase und bedanke dich
bei dem netten Herrn, der dir was zu trinken mitgebracht hat.“
    Ich gebe ihr ein volles Glas. Sie
leert es in einem Zug. Die hübscheste Trinkerin des Viertels!
    „Aber... Yolande...“, beginnt sie
wieder dieselbe Leier. Ich setze mich neben sie.
    „Macht Ihnen das so große Sorgen?“
    „Finden Sie das übertrieben? Seit gestern...
Ich befürchte das Schlimmste. Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen... Und
gegessen hab ich auch nichts...“
    „Also haben Sie getrunken!“
    „Ja. Aber ich bin nicht mal besoffen
geworden.“
    „Das klassische Problem! Man erreicht
nie, was man will. Und dann, wenn man’s gar nicht vorhat... Hier, trink noch ‘n
Schlückchen, Régine. Unsere Freundin wird schon wieder auftauchen. Die Flics
haben uns unsere Sorgen abgenommen.“
    „Den ganzen Tag über sind sie im Haus
rumgelaufen.“
    „Haben sie dich verhört?“
    „Die haben fast alle verhört.“
    Ich drücke ihre Hand.
    „Sie haben uns doch nicht verraten,
hm?“ frage ich sie. „Nein, ich hab mich an das gehalten, was wir abgesprochen
hatten.“
    „Bist ‘n liebes Mädchen. Und jetzt
machen Sie sich nicht verrückt wegen...“
    Plötzlich lache ich laut los. Régine
starrt mich verblüfft an. „Was ist daran so lustig?“
    „Wie ich mit Ihnen rede! Manchmal sag ich ,du’ , manchmal ,Sie’. Verkalkung nennt man so was.“
    Sie streichelt meine Hände.
    „Vielleicht willst du mich unbewußt
duzen“, flüstert sie und schenkt mir einen lächelnden Blick durch ihre langen
Wimpern... „Manchmal gibt es Gründe dafür...“
    Mit katzenhafter Geschmeidigkeit
überbrückt sie den Abstand zwischen uns und schmiegt sich an mich. Ihre Brust
atmet heftig. Ihre Lippen finden meinen Mund...
    Aber ihr Elan wirkt genau kalkuliert.
Der Anfall von Zärtlichkeit hat nichts von der Spontaneität, mit der sie sich
eben in meine Arme geworfen hat. Mit dieser Geste will sie sich freikaufen von
der Lüge. Lüge durch Verschweigen. Um ihr moralisches Gleichgewicht
wiederzufinden, fiel ihr nur dieser Trick ein. Irgend etwas hat sie auf dem Herzen. Deswegen will sie es mir

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