Wer einmal lügt
die Straßennamen, doch dort, ganz versteckt in einer Nische an der Kreuzung von Park Place und Boardwalk vor der protzigen Wild-West-Fassade des Ballys Hotel and Casino , stand ein Ehrenmal für die Gefallenen des Koreakriegs, das zumindest für einen Moment in der Lage war, den Kitsch zu verdrängen und einen zum Nachdenken anzuregen.
Broome entdeckte Ray Levine neben der fast übernatürlichen, dominanten Gestalt des Denkmals – der vier Meter hohen Statue The Mourning Soldier von Thomas Jay Warren und J. Tom Carillo. Bei der Bronzegestalt, die mit aufgekrempelten Ärmeln dasteht, den Helm in der rechten Hand, fällt dem Betrachter als Erstes die Haltung ins Auge, der gesenkte Blick, mit dem sie traurig die vielen Erkennungsmarken betrachtet, die an Ketten von ihrer linken Hand herabhängen. Man sieht die Verwüstung in dem tapferen, attraktiven Gesicht des Soldaten, während er, das Gewehr noch auf den Rücken geschnallt, das Messer im Gürtel, die Marken seiner gefallenen Kameraden ansieht. In der Wasserwand hinter ihm scheint sich eine Gruppe erschöpfter Soldaten zu materialisieren, von denen einer einen verwundeten oder toten Kameraden trägt. Daneben sind die Namen von achthundertzweiundzwanzig gefallenen oder vermissten Soldaten aus New Jersey eingraviert, über denen ein ewiges Licht brennt.
Normalerweise hätte so ein Denkmal die Menschen mindestens ernüchtert und zum Nachdenken gebracht, aber hier, eingezwängt zwischen dem Strand- und Treibgut des Atlantic City Boardwalk, wirkte es geradezu ergreifend. Einen Moment lang standen die beiden Männer – Broome und Ray Levine – nur wortlos da und starrten die Erkennungsmarken in der Hand des trauernden Soldaten an.
Broome trat etwas näher an Ray Levine heran. Ray spürte, dass er da war, drehte sich jedoch nicht zu ihm um.
»Kommen Sie oft hierher?«, fragte Broome.
»Gelegentlich.«
»Ich auch. Rückt alles wieder in die richtige Perspektive.«
Touristen gingen nur ein paar Schritte hinter ihnen vorbei und suchten auf den Casino-Werbetafeln nach Jackpots und billigen Büfetts. Die meisten nahmen das Denkmal gar nicht wahr, und wenn, dann wandten sie die Augen ab wie bei einem Obdachlosen, der um Kleingeld bettelte. Broome verstand das. Sie suchten hier etwas anderes. Die Männer hinten an der Wasserwand, die für die Freiheit, dieses andere zu suchen, gekämpft hatten oder sogar für sie gefallen waren, würden es wahrscheinlich auch verstehen.
»Ich hab gehört, dass Sie im ersten Irakkrieg waren«, sagte Broome.
Ray runzelte die Stirn. »Aber nicht als Soldat.«
»Als Fotojournalist, oder? Riskanter Job. Sie sollen einen Schrapnellsplitter abgekriegt haben.«
»Ist nicht der Rede wert.«
»Das sagen die Mutigen immer.« Broome fielen Rays Rucksack und die Kamera in seiner Hand auf. »Machen Sie hier Fotos?«
»Hab ich früher.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Nein. Jetzt nicht mehr.«
»Warum nicht?«
Ray zuckte die Achseln. »Es ist aus Stein und Bronze. Es verändert sich nicht.«
»Ganz anders als«, sagte Broome, »zum Beispiel die Natur. Oder Bäume und Sträucher in der Nähe von Ruinen. Das sind bessere Orte, um Fotos zu machen, oder?«
Ray drehte sich um und sah Broome zum ersten Mal an. Ray war unrasiert, seine Augen waren glasig und blutunterlaufen. Megan hatte Broome erzählt, dass sie sich gestern Nacht zum ersten Mal seit siebzehn Jahren mit ihrem ehemaligen Verehrer getroffen hatte. Danach hatte er offenbar zur Flasche gegriffen, was, wenn man den Leuten glaubte, die ihn etwas besser kannten, Ray Levine mit großer Regelmäßigkeit tat.
»Darf ich annehmen, Detective Broome, dass Sie mich nicht angerufen haben, um sich einen Vortrag über Fotografie von mir anzuhören?«
»Doch, gewissermaßen schon.« Broome reichte ihm das anonyme Foto von Carlton Flynn in den Pine Barrens. »Was können Sie mir darüber sagen?«
Ray warf schweigend einen Blick darauf. »Es ist amateurhaft«, sagte er dann und gab es Broome zurück.
»Ach, Ray, wir sind doch immer selbst unsere strengsten Kritiker, stimmt’s?«
Ray schwieg.
»Wir wissen beide, dass Sie dieses Foto gemacht haben. Versuchen Sie gar nicht erst, es zu leugnen. Ich weiß, dass es von Ihnen ist. Ich weiß, dass Sie an dem Tag, an dem Carlton Flynn verschwunden ist, bei den Ruinen waren. Außerdem weiß ich, dass Sie dort auch vor siebzehn Jahren waren, als Stewart Green verschwunden ist.«
Ray schüttelte den Kopf. »Ich war nicht da.«
»Doch, Ray, Sie waren da. Megan
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