Wer einmal lügt
Winkel ihres Gehirns jedoch auch die blonden Haare, und ihr wurde klar, dass die Angreiferin dieselbe Frau war, die Harry Sutton umgebracht hatte. Die Frage, warum sie das getan hatte, spielte in diesem Moment keine Rolle – das würde sie später noch klären können, falls sie überlebte –, doch jetzt mischte sich Wut zwischen die Angst und die Panik.
Die Frau durfte ihr Messer nicht wieder zurückbekommen.
Nein, die Zeit lief immer noch nicht langsamer. Es waren erst ein oder zwei Sekunden vergangen, seit Megan das auf sie zukommende Messer das erste Mal gesehen hatte. Wieder reagierte sie rein instinktiv und tat etwas, das normalerweise undenkbar wäre. Sie legte die freie Hand über das Messer, schlug sich mit der Handfläche auf den Unterarm – und fixierte die rasiermesserscharfe Klinge in ihrem eigenen Fleisch.
Sie dachte nicht darüber nach, dass sie tatsächlich versuchte, das Messer in ihrem Arm zu behalten. Sie wusste nur, dass, ganz egal, was auch passierte, ganz egal, welchen Angriffen sie sich noch ausgesetzt sah, diese Frau ihr Messer auf keinen Fall wiederbekommen durfte.
Als die Blondine versuchte, das Messer wieder zu befreien, das an dem Knochen schabte, durchzuckte Megan ein brennender Schmerz, der sie beinah in die Knie gezwungen hätte.
Beinah.
So war das mit Schmerzen. Eigentlich wollte man nachgeben, aber wenn einem das Leben wichtig war – und wem war es das nicht? –, wurden alle anderen Schutzmechanismen außer Kraft gesetzt. Vielleicht lag das an einer schnöden chemischen Substanz wie dem Adrenalin, vielleicht an etwas Abstrakterem wie dem Überlebenswillen, jedenfalls interessierte Megan der Schmerz in diesem Augenblick nicht.
Überleben und Wut – nur das zählte. Sie war wütend auf diverse Personen – auf den Killer, der Harry so zugerichtet hatte, auf Dave, weil er sie im Stich ließ, auf Ray, weil er sich aufgegeben hatte. Sie grollte mit welcher Gottheit auch immer, die dafür verantwortlich war, dass alte Menschen wie Agnes am Ende ihres Lebens zur Belohnung gedemütigt und gequält wurden, indem sie den Verstand verloren. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie sich mit dem, was sie hatte, nicht zufriedengab, sondern in der Vergangenheit herumstocherte, da sie offenbar nicht begriffen hatte, dass eine gewisse Unzufriedenheit zum Leben des Menschen einfach dazugehörte – und vor allem kotzte es sie an, dass dieses widerliche blonde Miststück sie ermorden wollte.
Ach, scheiß drauf.
Megan stieß einen Schrei aus – ein schrilles urtümliches Kreischen. Das Messer immer noch im Fleisch ihres Unterarms gefangen, drehte sie den Oberkörper zur Seite. Die Blondine machte den Fehler, das Messer festzuhalten, und geriet durch Megans Drehung aus dem Gleichgewicht – wenn auch nur kurz.
Nur so viel, dass sie einen kleinen Schritt nach vorn machen musste.
Megan zog den Ellbogen hoch. Der spitze Knochen traf von unten auf die Nase der Blondine und drückte sie Richtung Stirn. Es knirschte. Blut schoss aus der Nase und lief über ihr Gesicht.
Doch der Kampf war noch nicht zu Ende.
Die Blondine, die jetzt auch Schmerzen hatte, sammelte kurz ihre Kräfte. Als sie einen festen Stand gefunden hatte, riss sie mit aller Kraft am Messer. Die Klinge kratzte erneut über den Knochen, als wollte sie eine Schicht abschaben. Megan versuchte dagegenzuhalten, aber jetzt hatte die Blondine das Momentum auf ihrer Seite. Die Klinge kam heraus, rutschte mit einem hörbaren, nassen Sauggeräusch aus dem Muskel.
Blut sprudelte wie ein Geysir aus der Wunde.
Megan war schon immer zimperlich gewesen. Als sie acht Jahre alt war, wollte sich einer ihrer »Stiefväter« die neueste Folge von Freitag der 13. angucken, und da er keinen Babysitter fand, nahm er Megan mit. Das Erlebnis hatte tiefe Narben hinterlassen. Seitdem – auch jetzt noch – hatte sie Probleme, Filme anzusehen, die wegen Gewaltszenen mit einer Altersbeschränkung ab sechzehn Jahren versehen waren.
Doch das spielte jetzt alles keine Rolle. Beim Anblick des Blutes – sowohl von ihrem eigenen als auch von dem der Blondine – zuckte sie nicht einmal zusammen. Es schien ihr sogar neue Kräfte zu verleihen.
Im ersten Moment spürte sie nichts im Arm – dann kam der Schmerz in einem mächtigen Schwall, als ob der Nerv wie ein Gartenschlauch durch einen Knick blockiert gewesen wäre, den man plötzlich begradigt hatte.
Der Schmerz verschlug ihr den Atem und blendete sie.
Mit einem animalischen Fauchen hob die Blondine
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