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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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schneller. Seine Nackenhaare sträubten sich.
    Er wusste es. Er wusste es einfach.
    »Nicht so schnell, Broome.«
    Er eilte weiter, wurde eher noch schneller, schob die Zweige zur Seite und stolperte fast über ein paar dicke Wurzeln. Schließlich, nicht einmal eine Minute nachdem sie den Hang hinabgegangen waren, erreichte Broome eine kleine Lichtung und blieb stehen.
    Samantha Bajraktari folgte kurz nach ihm. »Broome?«
    Er starrte das zerfallene Bauwerk vor sich an. Es handelte sich um eine niedrige Mauer, nicht einmal einen Meter hoch und mit Efeu überwuchert. So ging das. Wenn der Mensch sich zurückzog, rückte die Natur wieder vor und eroberte das zurück, was ihr ursprünglich gehört hatte.
    »Was ist das?«, fragte Bajraktari.
    Broome schluckte. »Ein Brunnen.«
    Er ging hin und sah hinein. Dunkelheit.
    »Haben Sie eine Taschenlampe?«
    Der Hall seiner Stimme verriet ihm, dass der Brunnen tief war. Sein Magen zog sich zusammen.
    »Hier«, sagte sie.
    Broome nahm ihre Taschenlampe und schaltete sie an. Dann richtete er sie direkt ins Loch – und als der Strahl etwas erfasste, blieb Broome kurz das Herz stehen. Vielleicht hatte er ein Geräusch von sich gegeben, ein Stöhnen oder so etwas, aber er war sich nicht sicher. Samantha trat neben ihn, sah hinunter und schnappte nach Luft.
    Ken setzte sich auf den letzten Hocker und beobachtete die Bardame.
    Sie hieß Lorraine und beherrschte ihren Job. Sie lachte viel. Sie berührte die Männer am Arm. Sie lächelte, und falls das doch alles nur gespielt war, falls sie diesen Job tief in ihrem Innersten verabscheute, merkte man ihr das nicht an. Bei den anderen Mädels sah man das hingegen. Sie versuchten, fröhlich zu wirken, ihr Lächeln reichte jedoch nie über die Lippenpartie hinaus, und oft – zu oft – sah man die Leere in ihren Gesichtern und den Hass in ihren Augen.
    Die Stammgäste nannten die ältere Bardame Lorraine. Stammgäste in einem Strip-Club – Ken überlegte, ob es etwas Jämmerlicheres gab. Trotzdem hatte er Verständnis für diese Männer. Hatten wir doch eigentlich alle. Wir alle spürten diese Anziehungskräfte. Und Sex verströmte mit die stärkste. Der Macht über andere Menschen konnte sie zwar nicht das Wasser reichen, doch diese Erfahrung würden die meisten dieser Männer hier nie machen. Sie würden nie erfahren, was einen Mann in seinem tiefsten Inneren wirklich berührte.
    Doch Ken hatte gelernt, dass das Geheimnis, wie man gegen alles, was so eine große Anziehungskraft verströmte, bestehen konnte, in seiner Akzeptanz lag. Man musste sich eingestehen, dass man es nicht aufhalten konnte. Auch wenn Ken sich selbst durchaus für einen disziplinierten Menschen hielt, so wusste er doch, dass der Mensch im Prinzip nicht zur Selbstverleugnung geschaffen war. Deshalb waren Diäten von vorneherein praktisch immer zum Scheitern verurteilt. Oder Enthaltsamkeit.
    Die einzige Möglichkeit, gewisse Dinge zu besiegen, bestand darin, ihre Existenz anzuerkennen und sie dann in geordnete Bahnen zu lenken. Er sah zu Lorraine hinüber. Sie würde irgendwann gehen. Er würde ihr folgen, bis sie alleine war, und dann … tja, diesen geordneten Bahnen folgen.
    Er drehte sich auf seinem Hocker um und lehnte sich mit dem Rücken an die Theke. Die Mädchen waren hässlich. Man spürte fast, wie Krankheiten aus ihren Poren strömten. Mit Barbie war keine auch nur annähernd vergleichbar. Er dachte an das Haus am Ende der Sackgasse, an Kinder, die Grillfeste im Garten und stellte sich vor, wie er seinem Kind beibrachte, einen Baseball zu fangen, oder beim Feuerwerk am vierten Juli eine Decke ausbreitete. Er wusste, dass Barbie in dieser Hinsicht große Vorbehalte hatte. Er verstand ihre Skepsis nur zu gut, aber auch dieses Leben verströmte eine unbestreitbare Anziehungskraft. Warum, fragte er sich, fühlten wir uns alle zum Familienleben hingezogen, wenn es in der Regel doch nur ins Unglück führte? Er hatte darüber nachgedacht, und dabei war ihm bewusst geworden, dass der Fehler nicht der Traum an sich war, sondern dass die Träumer sich falsch verhielten. Barbie sagte oft, sie wären anders und nicht für ein solches Leben geschaffen. Das stimmte aber nur zum Teil. Sie waren zwar anders, aber genau dadurch bot sich ihnen die Gelegenheit, dieses Leben zu leben. Sie würden sich nicht wie hirnlose Drohnen in diese Familienwelt begeben.
    Es war nicht so, dass dieses Leben, nach dem die Menschen sich sehnten, per se schlecht oder wertlos war – das

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