Wer einmal lügt
hatte keine Perspektive gehabt, sich nicht einmal getraut, in den örtlichen Clubs zu arbeiten, und davon gelebt, Männer auszunehmen. Sie hatte sich im lässigen Jeans-Look einer College-Studentin gekleidet (»Ich bin im letzten Jahr auf dem Emerson«, hatte sie behauptet), in Hotel-Bars herumgehangen, Männer (am liebsten verheiratete) betrunken gemacht oder ihnen manchmal etwas in den Drink gemischt, war mit ihnen nach oben aufs Zimmer gegangen, hatte sie ausgeraubt und war im Dunkel der Nacht verschwunden.
An jenem Abend hatte sie es zum ersten Mal im Loews Hotel im Stadtzentrum probiert. Es waren kaum Verheiratete in der Bar gewesen. Nach einer Weile war eine Gruppe johlender und herumbrüllender Harvard-Studenten hereingekommen. Sie hatte versucht, die Schnösel trotz ihrer zarten Hände und der selbstgefälligen Mienen nicht zu hassen.
Sie war davon ausgegangen, dass das leicht verdientes Geld wäre (obwohl sie wusste, dass Studenten nur selten Bargeld bei sich hatten), als etwas Überraschendes geschah. Man konnte es Schicksal, Vorsehung oder sonst wie nennen, aber sie fing an, sich mit einem von ihnen zu unterhalten, einem schüchternen, netten Kerl namens Dave Pierce. Irgendetwas zog sie zu ihm hin. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl und sicher. Es war ganz anders, als es bei Ray gewesen war. Es hatte nicht eingeschlagen wie ein Blitz. Das würde erst später kommen. Aber sie empfand etwas anderes, ein tiefes, starkes und sehr wahrhaftiges Gefühl.
Also musste sie ihn belügen. Sie hatte keine andere Wahl.
Sie hatten sich die ganze Nacht unterhalten, und es war einfach wunderbar gewesen. Er war dabei, seinen Abschluss in Harvard zu machen. Sie behauptete, gerade kurz vor dem Abschluss ihres Studiums am Emerson College zu stehen. Als sie sich eine Woche später zu ihrem ersten echten Date verabredeten, schlug sie ihm sogar die Bibliothek des Emerson College vor. Das war in der Zeit, wo man noch nicht beim Betreten jedes Gebäudes den Studentenausweis vorlegen musste. Sie hatte einfach ein paar Bücher vor sich auf den Tisch gelegt und auf ihn gewartet.
Und seitdem hatte sie immer weiter gelogen.
Sie kannte sich auf dem College-Campus gut aus und hatte ihm erzählt, dass sie in der Colonial Residence Hall wohnte, er aber nicht vorbeikommen könnte, weil sie eine schwierige Zimmergenossin hätte, die Besucher nicht ausstehen könnte. Nur was ihre Familie betraf, hatte sie ihm die Wahrheit erzählt – sie war ein Einzelkind, und ihre Eltern waren jung gestorben. Sie erfand eine falsche, langweilige Kindheit in Muncie, Indiana, und tat so, als würde es ihr schwerfallen, darüber zu reden, weil sie immer wieder an den Verlust ihrer Eltern denken musste. Dave gab sich verständnisvoll. Wenn sich Lücken in ihrer Geschichte auftaten – und das taten sie –, sah Dave sie sich nicht sehr genau an. Er war von Natur aus ein vertrauensseliger Mensch und außerdem verliebt. Wenn sie ihm etwas vorenthalten wollte, tja, dann machte das ihre Aura nur noch etwas geheimnisvoller, wodurch sie womöglich noch unwiderstehlicher wurde. In seiner naiven Welt konnte es sich bei diesen Geheimnissen um nichts wirklich Bedeutsames handeln. Ein paar kleinere Widersprüche in ihrer Lebensgeschichte konnten so wichtig nicht sein.
Außerdem war Maygin-Cassie-Megan eine verdammt gute Lügnerin.
Doch jetzt fing die Fassade – sprich: die Lügen – ernsthaft an zu bröckeln. Nach all den Jahren, nach all der harten Arbeit, hatte sie alles aufs Spiel gesetzt. Und wofür? Um die Vergangenheit zu korrigieren? Um wieder einmal etwas zu erleben? Oder wollte sie unbewusst erwischt werden? War die Maske einfach zu schwer geworden, um sie für den Rest ihres Lebens zu tragen?
Wie würde Dave reagieren, wenn er die Wahrheit erfuhr?
Megan atmete tief durch und fing an zu tippen:
DIE PRESIERS SIND HEUTE MIT KAYLIES CARPOOL DRAN. JORDAN SCHREIBT EINE MATHEARBEIT. ACHTE DARAUF, DASS ER LERNT.
Nach einer kurzen Pause kam eine weitere SMS von Dave:
WO BIST DU?!?!
Megan starrte einen Moment lang auf das kleine Display. Dann tippte sie:
MUSS WAS ERLEDIGEN. WEISS NICHT, WANN ICH NACH HAUSE KOMME. ICH LIEBE DICH.
Wieder verging ein Moment. Das Handy klingelte nicht. Aber sie bekam eine weitere SMS von ihrem Mann.
DAS VERSTEH ICH NICHT.
Sie antwortete schnell.
ES IST OKAY. VERTRAU MIR.
Ha. Sie meinte es ernst, aber wenn man darüber nachdachte, war es doch eher ein schlechter Witz. Vertrau mir. Welche Ironie. Sie wartete nicht
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