Wer einmal lügt
in dein altes, geordnetes Leben zurückzukehren.
Einerseits hatte sie nach diesem ganzen irrsinnigen Tag immer noch den Eindruck, sie hätte nichts Schlimmes getan, keinen bleibenden Schaden angerichtet und könnte unbehelligt wieder verschwinden. Andererseits drehte sie sich immer wieder um und sah nach, ob ihr nicht jemand folgte. Jetzt, wo Stewart Green noch lebte und sie sein schreckliches Lächeln wieder vor Augen hatte, dieses Lächeln, kurz bevor er zuschlug, da schien es ihr, als würde diese Welt sie langsam erdrücken. Ja, das Beste – und Klügste – wäre sicher, direkt nach Hause zu fahren. Dennoch fragte sie sich plötzlich, ob es dafür nicht womöglich doch schon zu spät war.
Lucy. Um elf Uhr nachts.
Lucy stand in Margate, knapp zehn Kilometer von ihrem aktuellen Aufenthaltsort entfernt. Sosehr sie auch versuchte, sich von etwas anderem zu überzeugen, so gefährlich oder vergänglich ihr Verhalten auch sein mochte, wusste sie doch, dass sie keinen Frieden finden würde, keinen Schlussstrich ziehen konnte, bevor sie nicht Ray gesehen hatte. Und – abgesehen von allem anderen – konnte sie unmöglich den ganzen Weg hier runtergefahren sein, ohne Lucy zu sehen.
Sie fuhr die Atlantic Avenue Richtung Süden, bis vor ihr in der Dunkelheit Lucys Silhouette im Mondschein aufragte. Obwohl Megan Lucy schon so oft gesehen hatte, starrte sie sie mit beinahe kindlicher Ehrfurcht an.
Lucy war ein riesiger Elefant – riesig bedeutete in diesem Fall, dass er sechs Stockwerke hoch war.
Die im Jahr 1882 erbaute Lucy war eine der größten und ältesten vom Auto aus zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten der USA und ein architektonisches Wunderwerk – ein zwanzig Meter hohes, elefantenförmiges Gebäude, das ursprünglich ausgerechnet für eine Immobilienfirma gebaut worden war. Im Laufe ihrer hundertdreißigjährigen Regentschaft an der Küste New Jerseys war Lucy unter anderem ein Restaurant, eine Kneipe (während der Prohibition geschlossen) und ein privates Strandhaus gewesen. Inzwischen hatte man sie zu einer Sehenswürdigkeit ausgebaut, die Touristen für ein paar Dollar besichtigen konnten. Der neunzig Tonnen schwere Dickhäuter bestand aus einer Million Brettern, Latten und Balken, die man mit einer blechernen Außenhülle überzogen hatte. Man betrat Lucy durch eins ihrer dicken Hinterbeine und ging die Wendeltreppe hinauf in den bauchigen gipsverkleideten Hauptraum, der im Rosaton des Magenmittels Pepto-Bismol gestrichen war, was, wie es hieß, zufällig auch die Farbe eines Elefantenmagens sein sollte. Aus Lucys Kopf konnte man durch ihre Augenfenster aufs Meer hinaus blicken. Ein weiteres Fenster befand sich im Bereich des Hinterteils, das von denen, die viel mit Lucy zu tun hatten, meist als »Heckscheibe« bezeichnet wurde. Es waren Fotos ausgestellt, ein Video, und sogar eine Badewanne stand hier. Wenn man noch ein paar Treppen hinaufging, erreichte man Lucys Rücken und konnte die fantastische Aussicht auf den Atlantik genießen. Bei klarer Sicht konnten die Leute auf den Booten da draußen Lucy noch aus mehr als zehn Kilometern Entfernung erkennen.
Megan hatte Lucy schon immer geliebt. Sie wusste selbst nicht genau, warum. Vor zwanzig Jahren war sie an fast jedem ihrer freien Tag hergekommen, hatte sich am Imbiss vor dem Elefanten einen Burger mit Pommes geholt und sich immer auf dieselbe Bank am Rumpf des alten Mädchens gesetzt. Dabei hatte sie einen der Verwalter kennengelernt, der auch Führungen durch Lucys Innenleben leitete, einen netten, wenn auch übertrieben anlehnungsbedürftigen Mann namens Bob Malins. Die Beziehung hielt nicht lange, doch bevor sie mit ihm Schluss machte, hatte sie heimlich für ein paar Stunden seinen Schlüssel zu Lucy entwendet und sich einen Nachschlüssel machen lassen.
Und diesen Schlüssel hatte sie immer noch am Schlüsselbund.
Bob hatte das natürlich nie erfahren, aber spätnachts, wenn Megan Abstand brauchte vom Club und der Wohnung, die sie mit vier anderen Mädchen teilte, war sie hergefahren, mit Hilfe des Schlüssels in Lucy verschwunden und hatte dort eine Decke ausgerollt. Als sie sich in Ray verliebte, war dies einer der Orte, an dem sie sich am häufigsten trafen. Sie war nie mit einem anderen Mann hier gewesen, nicht ein einziges Mal. Nur mit Ray. Sie hatte aufgeschlossen, sie beide waren die Wendeltreppe hinaufgegangen und hatten oben auf die sanfteste und wunderbarste Weise Liebe gemacht.
Megan parkte den Wagen, stieg aus, schloss die
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